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Applebys Arche

Applebys Arche

Titel: Applebys Arche
Autoren: Michael Innes
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Kapitel 1
    Miss Curricle ließ ihr Buch sinken und blickte durchs Fenster
der Sonnendeckbar ins Freie. »Der Himmel«, verkündete sie, »ist wolkenlos und
von tiefstem Blau.«
    Man mochte sich fragen, warum sie einen so dozierenden Tonfall
anschlug, denn die meteorologischen Fakten waren offensichtlich und – fast
schon in den Tropen – auch nicht ungewöhnlich. Vielleicht war hinter Miss
Curricles didaktischer Art die Tradition einer Familie von Verwaltungsbeamten
zu spüren; in den neunziger Jahren hätte ihr Vater um Punkt fünf Uhr einen
Aktendeckel schließen und im gleichen Ton verkünden können, daß wieder
einmal zum Wohle des Empires die Pflicht getan war. »Von tiefstem Blau«, wiederholte Miss Curricle, und wieder mit solcher Befriedigung, daß man
denken konnte, sie selbst habe den unsichtbaren Pinsel angelegt und die Farbe
so kräftig aufgetragen. »Mr.   Hoppo, haben Sie sich den Himmel angesehen?«
    Mr.   Hoppo setzte sich beflissen auf, eine Bewegung, bei der ihm
ein unsichtbares Kleidungsstück den Hals einschnürte; mit zögerndem Zeigefinger
lockerte er den nicht vorhandenen Kragen eines Geistlichen; und als ihm
aufging, wie unnötig die Frage war, setzte er eine Miene auf, die vor Wohlwollen
nur so strahlte. »Ein prachtvoller Himmel, das kann man sagen.« Er reckte sich
in seinem Liegestuhl, um – was auf einem großen Überseedampfer oft gar nicht so
einfach ist – einen Blick aufs Meer zu werfen. »Und auch der Ozean« – er sagte
es mit dem Ton eines Mannes, der zu jeder Unterhaltung etwas Wertvolles
beisteuern wird –, »auch der Ozean ist von einem exquisiten Blau. Einem
außerordentlichen Blau. Bestenfalls noch in der Bucht von Neapel …«
    »Der Ozean«, erwiderte Miss Curricle knapp, »ist nicht so blau wie
der Himmel.« Miss Curricle mißbilligte die Einführung eines zweiten Elements,
vielleicht weil sie von ihrem Platz aus nur Glas und weiße Farbe und den Himmel
sehen konnte und nicht die Absicht hatte, sich zu regen. »Der Himmel ist von intensivstem Blau. Das Meer ist ebenfalls blau – aber nicht
ganz so blau.«
    »Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Vielleicht können
Sie es von Ihrem Platz aus nicht angemessen würdigen. Wenn Sie einmal hier
herüberkommen …«
    »Danke, das dürfte wohl kaum erforderlich sein. Der Ozean verändert
seine Gestalt in diesen Breiten nicht plötzlich.« Miss Curricle drückte ihren
verlängerten Rücken noch fester in den Liegestuhl und wahrte dabei doch in
ihren unnachgiebig gespannten Schultern exakt das gebührende Maß an
Damenhaftigkeit. »Und bevor ich Platz nahm, hatte ich Gelegenheit mich zu
vergewissern, daß er weniger blau ist als der Himmel.«
    »Weniger leuchtend, das mag sein. Aber was die schiere
Farbintensität angeht … oh, sehen Sie, ein Wal!«
    Von ihrem Platz an der Erfrischungstheke war Mrs.   Kitterys leises
Kichern zu hören – ein Zeichen, daß hinter den groß und treu dreinblickenden
Augen durchaus ein wacher Verstand lag.
    Miss Curricle kehrte vom Fenster zurück, an das sie gestürmt war.
»Ich sehe keinen Wal. Und ich glaube auch nicht, daß Mr.   Hoppo einen gesehen …«
    Mrs.   Kittery nahm den Strohhalm, mit dem sie ihre Limonade
schlürfte, aus dem Mund. »Alles ist blau«, seufzte sie. »Die See und der Himmel
und sogar die Uniformen der Jungs. Eine friedliche Farbe, das schon. Aber
manchmal wird mir von soviel Blau ganz blümerant. Ich fände es schöner – noch erholsamer –, wenn die See grün wäre. Wie eine große
weite Wiese.«
    »Die See«, ergriff Miss Curricle ihre Chance, » ist grün. Eindeutig grün. Ein reines Blau findet man nur
am Firmament. Salzwasser ist von sich aus farblos oder hat bestenfalls einen
leicht grünlichen Ton. Das kann jeder an Bord eines Schiffes an seinem Badewasser
sehen.«
    Mrs.   Kitterys Strohhalm blubberte gefährlich. Miss Curricle warf Mr.   Hoppo einen Blick zu, der zu sagen schien, daß er sich ja nicht unterstehen
solle, sich von der Stelle zu rühren, solange sie mit ihrer neuen Gegnerin
beschäftigt war. »Ihnen fehlt doch nichts, Mrs.   Kittery? Spüren Sie den
Seegang? Oder ist es nun doch das eine Glas Limonade zuviel? Sie wissen, nicht
wahr, daß ein Gefühl unendlicher Trauer oft keine tiefere Ursache hat als eine
zu reichliche Mahlzeit – oder in Ihrem Falle einen zu reichlichen
Limonadengenuß? Nun wo ich Sie näher betrachte, kommen Sie mir ganz wie die Art
von Frau vor, die keinen Zukker verträgt.«
    »Aber ich bin
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