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Nasses Grab

Nasses Grab

Titel: Nasses Grab
Autoren: Helena Reich
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Prolog
    I n den frühen Morgenstunden des vierzehnten August 2002 heulten in Prag die Sirenen. Die Stadt war hellwach. Der Fluss, der sie in zwei ungleichmäßige Hälften teilte, drohte ihre ältesten und schönsten Viertel zu zerstören. Einen ganzen Monat lang hatte es ohne Unterlass geregnet, bis die großen Stauseen im Süden des kleinen mitteleuropäischen Landes über die Ufer traten, die Bäche zu reißenden Flüssen wurden und das halbe Land unter Wasser setzten. Die Karpfenteiche liefen über und retteten Hunderttausende Fische vor der weihnachtlichen Schlächterei. Chemiefabriken spülten ihre giftigen Brühen in die Fluten.
    Gebannt hatten die Prager in den letzten Tagen die Nachrichten verfolgt, die erst ein zwanzigjähriges Hochwasser angekündigt hatten, dann ein fünfzigjähriges und schließlich ein hundertjähriges. Was aber gegen zwei Uhr morgens die Stadt erreichte, war ein Hochwasser, wie es die Stadt seit mehr als tausend Jahren nicht gesehen hatte. Die Moldau war plötzlich zu jener Urgewalt geworden, die Bedrich Smetana in seiner sinfonischen Dichtung verewigt hatte. Ein gewaltiger Strom, der auf seinem Weg nach Norden alles mitriss – Häuser, Bäume, Fahrzeuge, Tiere, Menschen. Dörfer und Städte versanken in seinen schlammigen Fluten.
    Zwar traf es ein wasserbegeistertes Volk, das einander auf Seemannsart mit Ahoj grüßt und Kanus, Kajaks und Surfbretter zu Wasser lässt, sobald das Wetter nur einigermaßen mitspielt. Aber angesichts solcher Wassermassen wurde der auch zu besten Zeiten trocken-deftige Humor der Tschechen beißend zynisch. Von einem neuen mitteleuropäischen Süßwasser-Naherholungsgebiet wurde gesprochen, einem Schlammloch im Herzen Europas und auch davon, dass Shakespeare sich tatsächlich geirrt habe: Böhmen liege nicht am Meer, sondern mittendrin.
    Als die Sirenen gegen Morgen verstummten und stattdessen die Martinshörner der Polizei, der Feuerwehr und der Rettungswagen ertönten, kamen an den zahlreichen Prager Brücken viele Schaulustige zusammen, um den Anstieg des Wassers zu beobachten. An manchen Stellen standen die Neugierigen sechs Reihen tief. So manche hatten Champagnerflaschen dabei und stießen fröhlich auf die Katastrophe an. Viele waren Touristen, die sich ein solches Spektakel nicht entgehen lassen wollten, wenn sie schon einmal da waren. Die Einheimischen kamen, um zu sehen, ob die Brücken standhalten würden, und wie es aussieht, wenn die Moldau mehr als dreimal so viel Wasser führt wie gewöhnlich.
    Auf der gesperrten Karlsbrücke standen Kräne, die Baumstämme und anderes Treibgut aus den Fluten fischten, bevor es die Brücke beschädigen konnte wie beim Jahrhunderthochwasser von 1870, das damals einen der gewaltigen sechzehn Pfeiler zum Einsturz gebracht hatte. Die hohen Bögen der fast sechshundertfünfzig Jahre alten Brücke lagen fast ganz unter Wasser, nicht einmal ein Kanufahrer hätte mehr unter ihnen hindurchfahren können.
    Ein paar Wochen später, als das Hochwasser über die Grenze nach Deutschland abgeflossen war, zählte man die Verluste. Abgesehen von verwüsteten Landstrichen, zerstörten Dörfern und Städten, vernichteten Ernten und leeren Fischteichen, waren auch bei Mensch und Tier Opfer zu beklagen.
    Auf der Strecke geblieben waren neben Kühen, Hühnern, Karpfen und anderen Nutztieren auch einige der Lieblinge des Prager Zoos: ein junger Gorilla, ein alter Elefant, ein Löwe, zwei Nilpferde sowie ein Bär. Und Gaston, der Seehund.
    Was die Verluste unter der Bevölkerung angeht, beliefen sie sich schließlich auf achtzehn Menschenleben und ein herrenloses Bein. Doch noch bevor alle Toten gezählt waren, gab das Hochwasser in Prag etwas preis, das jahrelang wohlverborgen in einem Lagerraum der Metro gelegen hatte …

D as Telefon klingelte um halb sechs. Larissa Khek streckte verschlafen einen Arm aus und tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Handy.
    »Ja bitte?«, fragte sie ziemlich verschlafen und unwirsch, während sie sich im Bett aufsetzte.
    » Ahoj , Schönste aller Schönen. Siehst du das Wasser?« Die Stimme kam ihr bekannt vor. Eine angenehme, warme, tiefe Stimme. Ein Mann. Schönste aller … ja. Das war’s. Diese alberne Begrüßungsformel gebrauchte nur einer.
    »Ich bin nicht die Schönste aller Schönen, Robin, ich bin die Müdeste der Allermüdesten. Und herzlichen Dank fürs Wecken«, sie warf einen Blick auf die Uhr, »ich hätte noch zwei Stunden schlafen können. Wovon sprichst du überhaupt? Was für
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