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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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die Bomber zum zweiten Mal Angriffswellen auf den Bahnhof und radierten ihn praktisch aus. Der Junge versteckte sich in einem Ruinenloch der Kirche. Er sah manches und durfte selbst nie gesehen werden, er war immer auf dem Sprung, er war zum Tier geworden, aber er wollte überleben. Denn er hatte es seinem Bruder versprochen.« Die Flüsterstimme des Amerikaners bricht. »Lange hätte es nicht mehr dauern dürfen...«
    »Sie müssen nicht«, haucht Veronika.
    »Doch, jetzt muss ich, unterbrich mich lieber nicht. - Dass der Türmer verschwunden war, konnte nur bedeuten, er wurde überwacht, und wenn der Junge nicht schon von sich aus hätte überleben wollen, so wäre dies ein zwingender Grund gewesen, denn wenn er entdeckt worden wäre oder man auch nur seine Leiche gefunden hätte, hätte das den Mann an den Strang geliefert. So brachte er alles, was er an warmen Sachen finden konnte, zu einem heil gebliebenen Winkel im Kirchendach. Es war sehr kalt und er durfte sich bei Tag nicht rühren, man hätte ihn vom Turm aus sehen können. Oder auch aus der Luft.«
    Der Bericht wird ein gequältes Flüstern. »Zusätzlich zu  den Bombergeschwadern gab es nämlich in den letzten Kriegswochen die feindlichen Tiefflieger, die auf alles schossen, was sich bewegte, auf Fahrzeuge in den Straßen, auf den Lokführer im Zug, auf Feldarbeiter, auf Radfahrer. Sie kamen wie aus dem Nichts, mit Vorliebe morgens, und selbst die tapferen Hitlerjungen, die nun zum Turmdienst eingeteilt waren, gingen sichtlich ungern auf den Kranz hinaus. Der totale Krieg war längst zu einer totalen Niederlage geworden. Doch noch gab es die Durchhaltefanatiker, und jeder vernünftige Mensch, der sich zu sagen getraut hätte, dass es sinnlos war, die Stadt zu verteidigen, wäre einem fliegenden Standgericht ausgeliefert oder auf der Stelle als Verräter erschossen worden. Dabei hatte man nur diese Wahl: die Stadt in Schutt und Asche legen zu lassen oder sie kampflos zu übergeben. Für den Jungen sah es nach Verteidigung aus. Von Norden rückten SS-Kampfverbände an, die offenbar hier in Stellung gehen wollten, an den Ausfallstraßen hatte der Volkssturm Schützengräben ausgehoben, die Tore waren durch Panzersperren blockiert. Das Leben des Jungen schien keinen Pfifferling mehr wert. Er durfte sein Schlupfloch nur bei finsterster Nacht verlassen und musste selbst da den Turm im Auge behalten; es konnte für ihn jede Sekunde zu Ende sein.«
    Der Amerikaner schweigt erschöpft. Er drückt Veronikas Hand, dann setzt er sich auf. Er stöhnt leise und massiert sich den Rücken.
    »Für einen, der Tage und Tage verkrümmt liegen musste, bin ich zimperlich geworden«, murmelt er.
    Veronika kann ihn nun sehen, denn hinter den Fenstern steht das erste blasse Morgengrau. Ihr ist schwindlig vom Schlafbedürfnis, gleichzeitig fühlt sie sich jenseits aller Müdigkeit. Sie setzt sich auf und fährt sich durch die Haare und umschlingt dann ihre Knie und sieht ihn an. Sie kann doch nicht zulassen, dass er so kurz vor dem Ende noch abbricht,  das kann er nicht machen, das ist nicht gut, das kann einfach nicht gut sein.
    »Soll ich einen starken Kaffee kochen? Sie haben einen im Schrank …«
    Er mustert sie lächelnd.
    »Ja, das wollen wir tun. Ja, wir setzen uns an den Stubentisch und trinken Kaffee und lassen den Sommermorgen herein.«
     

62
    Jascha liegt wie eine verwundete Katze in einem unbeschädigten Trichter des Deckengewölbes. Es ist eine Ecke, die kein Mensch in der Stadt erreichen kann - es sei denn, er käme aus der Luft oder er wäre schwindelfrei, wie Jascha es einmal war. Jetzt ist er es nicht mehr. Er taumelt vor Hunger, sowie er herauskriecht, und sein Weg über die verbliebenen Balken ist qualvoll langsam. Vor drei Nächten hat er zuletzt ein Stück Brot mit Margarine am gewohnten Platz vorgefunden, seit der Bombardierung des Bahnhofs nichts mehr.
    Vielleicht ist das jetzt das Ende; es passt zum Ende der Stadt, in die nach all dem Militärgewimmel eine merkwürdige Ruhe eingekehrt ist. Eine Stadt, die sich schlafen oder sterben legt. Vom Turm hängen große Rotkreuzfahnen herab, hier wird bereits gestorben, scheinen sie zu sagen, wir sind tief verletzt, ihr müsst uns nicht mehr treffen.
    Am frühen Morgen sind seltsamerweise die Truppen abgezogen, sie haben die Stadt nach Süden verlassen. Die Tore sind aber weiter verbarrikadiert, auf dem Turm stehen zwei Offiziere und schauen durch ihre Feldstecher. Seit sie da sind, bewegt sich Jascha
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