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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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absonderlichsten Laute, noch nie hatte ein Nazi sie von sich gegeben. Schon allein durch ihre Fremdheit wiesen sie jeden Zusammenhang zur Gefahr der vergangenen Jahre zurück, es waren Laute der Freiheit. Sie klangen forsch, befehlsgewohnt, zweifelnd, lockend - das alles im Wechsel, sie waren freundlich, sie erschraken, sie sorgten sich zutiefst, als der Junge im Zeitlupentempo über das einsturzgefährdete Balkenstückwerk näher kam. Du kannst den Jungen nicht sehen, Veronika, ich male dir sein Bild. Jascha Rosen trug zwei Männerhosen übereinander, die vermutlich grausam stanken, er roch es nicht mehr. Er hatte ein paar Hemden an, darüber einen Männerpullover und eine Jacke, wie die Arbeiter sie trugen, auf den Kopf hatte er eine ausgeleierte Pudelmütze gestülpt und mehrfach umgeschlagen, die Füße waren in Fußlappen gewickelt. In diesem Aufzug sah er sich dem ersten Schwarzen seines Lebens gegenüber, Sergeant William Mayne, der sich vorbeugte und ihm die Hand entgegenstreckte und ihn trotz seines Gestanks an sich zog und immerzu boy, boy, boy murmelte.
    Die Stablampe neben ihm hielt der Stadtpolizist, der zum ersten Mal, seit Jascha ihn kannte, keine Uniform anhatte. Während der schwarze Soldat ihn hinuntertrug, redete der Stadtpolizist auf den Jungen ein: Er müsse sich doch erinnern, dass er, der Steidle, ihm immer schon geholfen habe, schon gleich am allerersten Morgen, er habe der SS verschwiegen, dass die Turmtür nicht im Schloss sperrte, sondern komischerweise unten, so als würde einer den Fuß dagegenhalten. Er habe manches gesehen und gar nichts verraten, im Gegenteil, er habe ihm sein Buch in den Turm gebracht und zweimal ein Stück Speck. Und in den letzten Tagen, seit ein Tiefflieger den Türmer vom Rad putzte, habe  er immer wieder unter größter Lebensgefahr etwas in die Ruine geschmuggelt, denn sonst, das sei doch klar, müsste Jascha ja verhungert sein.
    ›Vom Rad putzte?‹, fragte Jascha schwach und hatte es doch bereits verstanden. Manchmal fragt man völlig sinnlos nach, weil man hofft, der Nachrichtenübermittler könnte sich versprochen haben und es jetzt merken und sich lachend an den Kopf schlagen und das Gesagte widerrufen. Aber der Steidle schlug sich nicht an den Kopf. Er war auch weit davon entfernt zu lachen, er war ehrlich bekümmert, denn ihn hatte etwas mit dem Türmer verbunden, eine Kameradschaft, wie es sie manchmal unter Männern gibt, die keine Sprache für Gefühle haben.«
    »Und Jascha?«, flüstert Veronika.
    »Jascha, der ließ nach einem plötzlichen Krampf alles hängen. Sodass der Sergeant dachte, das Kind, das er hinuntertrug, sei nun verstorben.«
    Veronika legt die Arme auf den Tisch und verbirgt das Gesicht zwischen ihnen. Die frische Morgenbrise vom Fenster streicht ihr über die Haare. Sie schiebt die flache Hand blind hinüber, es ist ein hilfloses kleines Angebot, das aber nicht angenommen wird.
    »Als seine Eltern verschwanden und auch Haus und Besitz weg waren, hatte der Junge noch seine Großmutter und vor allem seinen Bruder«, sagt der Amerikaner mit angestrengter Stimme. »Als die Großmutter starb, blieb ihm der Bruder, er war der wichtigste Mensch in seinem Leben - bis zum Tag der Befreiung, bis der Junge vom Tod des Türmers hörte. Veronika, als der Junge vom Tod des Türmers hörte, wusste er, wer sein wichtigster Mensch gewesen war. Von seinem Bruder trennten ihn der Ozean und die Zeit, sieben Jahre waren vergangen, Jascha war sechs gewesen. Vom Türmer trennte ihn nur die eine Sekunde - der Wahrheit. Einer Wahrheit, die er bereits geahnt hatte. Die Sekunde …«, flüstert der Amerikaner, »...war wie die Sekunde einer Hinrichtung: Eben ist das noch ein aufrechter Mensch mit Kopf, eine Sekunde später rollt der Kopf in den Korb. - So starben ja meine Eltern …«
    Die Sommerbrise wischt eiskalt über Veronikas Arme, ihre Härchen stellen sich auf. Sie presst das Gesicht auf den Tisch. »Aber Ihren Bruder, nicht wahr, den hatten Sie doch noch? Bitte, bitte, Sie haben ihn doch gefunden?«
    Das Lächeln des Amerikaners, das sie nicht sieht, sondern  hört, macht ihr Angst. »Liebe Veronika. Mein Bruder wollte Europa retten, er fiel 1944 bei der Invasion.«
    Sie hebt den Kopf und drückt sich langsam in ihre Ecke und umschlingt die hochgezogenen Beine, sie macht sich klein und eng und fest. Das Größte an ihr müssen die Augen sein, die auf den Amerikaner gerichtet sind. Als er endlich aufhört, zum Fenster hinauszulächeln und
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