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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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So dunkel die Nacht
    L iebe kennt keine Vorschriften, keine Gesetze, keine Vorsichtsmaßnahmen und keine Tabus. Sie ist überall – in uns und um uns herum. Liebe siegt gegen die Vernunft und auch gegen die Angst – und sie folgt nur einer einzigen Logik –« Vater senkt die Lider, verharrt einen Moment in der Reglosigkeit und wirft dann einen feurigen Blick in die Gemeinde. Selbst ich, die diesen Blick bereits Hunderte Male gesehen hat, vergesse für ein paar Sekunden meinen Kummer und spüre, wie Mama neben mir den Atem anhält. Sie tut das noch immer, bei jeder Predigt und jeder seiner Reden. Es berührt sie. Zum Teufel, mich berührt es auch, sogar in diesen Stunden, wo jedes Wort über Liebe blanker Hohn zu sein scheint, als würde Vater nur ein hohles Sprachrohr Gottes sein, der mir pünktlich zu Heiligabend bittersten Kummer beschert und nun ausgiebig über mich spottet.
    Vater hat beschlossen, dass seine Kunstpause lang genug war, und setzt erneut zum Sprechen an, die Arme ausgebreitet und ein feines, kluges Lächeln auf seinen schmalen Lippen.
    »Liebe folgt nur einer einzigen Logik – der Logik unseres Herzens.«
    Eine Logik, die ich weniger verstehe denn je. Ronia, du warst mal wieder so blind, so blind, strafe ich mich in Gedanken ab. Allerdings war das Timing dieses Mal niederschmetternd wie nie zuvor. Es ist ja nicht so, dass ich die Erfahrung an sich nicht schon gemacht habe. Ich könnte eine Doktorarbeit darüber schreiben. Thema: Woran merkst du, dass dein Freund dich verlassen will? Wenn er aus dem scheinbaren Nichts heraus anfängt, an dir vorbeizuschauen und deinen Blicken auszuweichen, beispielsweise. Geschielt hat Lukas gestern Nacht bereits, obwohl er vorher immer salbungsvoll behauptete, in meinen Augen versinken zu wollen. Jetzt brennen sie vor unterdrückten Tränen, sodass ich ständig blinzeln muss.
    Ja, und dann bringen sie plötzlich keinen geraden Satz mehr raus, selbst am Telefon, wo sie einen doch gar nicht anschauen müssen. Sie fangen an zu stottern und zu stammeln und heute hab ich meiner Nummer vier den finalen Satz kurzerhand abgenommen. Ich kenne ihn schließlich auswendig. Also kam ich ihm zuvor und die Erleichterung war ihm selbst durchs Telefon deutlich anzumerken. Wie ich feststellen musste, ist das noch beschämender, als sie weiterstottern zu lassen.
    »Du willst mich verlassen, oder?«
    »Ja«, antwortete Lukas wie aus der Pistole geschossen und trotzdem dachte ich sofort: Nein. Nicht heute. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht … Ich hab’s nicht nur gedacht, ich hab’s auch gesagt, erst fordernd, dann beschwörend, dann bettelte ich ihn an, zu mir zu kommen in die WG, jetzt, auf der Stelle – und es hat doch nichts geändert.
    Schlussmachen an Heiligabend, das ist niederträchtig und sollte gesetzlich verboten werden. Aber ich ahne, warum er es heute durchgezogen hat. Um am Fest der Liebe seine Ex zu treffen und mit ihr das zu tun, was er eigentlich mit mir hätte tun sollen. Vermutlich war er nie richtig von ihr getrennt, sondern hatte lediglich eine »Beziehungspause« eingelegt – und währenddessen mal schnell die Ronia umgarnt und ins Bett gelockt. Schnell ist dabei wörtlich zu nehmen; er legte ein rasantes Umwerbungstempo hin – und die Sache an sich? Länger als zwei Minuten kann sie nicht gedauert haben und es lag nicht an mir.
    Am liebsten würde ich mir die Finger in die Ohren stecken, denn Vater hört nicht auf mit seinem selbst gedichteten Hohelied der Liebe – es spielt keine Rolle, dass er vor allem die selbstlose Nächstenliebe meint und nicht die zwischen Mann und Frau.
    Mir entweicht ein zittriges Seufzen, das sofort Mamas Aufmerksamkeit weckt und sie einen Augenblick von Vater losreißt. Besorgt sucht sie meinen Blick, doch ich versuche, so zu tun, als sei ich nur ergriffen von dem, was ihr Ehemann gerade mit hallender Stimme in die Gemeinde ruft. Aha, er ist beim heiligen Samariter angelangt, meiner früheren Lieblingskinderbibel. Unzählige Male habe ich sie durchgeblättert, draußen im Flur zwischen dem Bad und dem Schlafzimmer meiner Eltern. In meinem eigenen Zimmer hab ich fast nie gespielt; vielleicht so ein Einzelkinder-Ding.
    Als ich diese Geschichte eines Nachmittags wieder auf dem Boden kniend las, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen nackten Mann – meinen Vater. Nun ja, sehen ist übertrieben. Warnend und irritierend verheißungsvoll rief Mama: »Achtung, Papa ist nackt!«, und dann flitzte Vater in Windeseile vom
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