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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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Moment.
    »Veronika«, murmelt sie. Und dann: »Ich kann wirklich bezahlen.« Um nicht sagen zu müssen: Ich weiß wirklich nicht, wohin.
    Der Türmer scheint sie plötzlich zu verstehen, er öffnet die Tür zu einem Zimmer.
    Veronika zerrt sofort am Kordelzug des Yogasacks. Und wenn es das Letzte ist, was sie im Leben macht: Sie zieht sich um, sobald sie allein ist.
    Doch das war ein Irrtum, der Mann wirft nur einen prüfenden Blick in das Zimmer. Türmerstube steht über der Tür. Er hakt einen Schlüsselbund vom Gürtel, sperrt die Tür ab und dreht sich zur Theke um. Alles, was dort ausgebreitet liegt - von der Billettrolle und der Kasse über Schreibzeug bis hin zu typischen Fundstücken -, packt er in eine Schublade, die er mit einem weiteren Schlüssel von seinem Bund verschließt. Dann sammelt er Postkarten von einem Ständer und steckt sie in eine Plastiktüte. Die Tüte schlägt er um und legt sie als Paket auf die Theke, die jetzt nur noch ein gewöhnlicher Schreibtisch ist. Er geht an Veronika vorüber zur Treppe und hält ihr die halbhohe Lattentür auf. Das Glöckchen bimmelt. In der Türmerstube antwortet ein zweites.
    Veronika folgt ihm stumm die Treppe hinab. Man kann  nicht über so viele Stockwerke zimperlich gehen, man gewöhnt sich an eine nasse Hose. Man poltert hinunter, den Sack über die Schulter geworfen.
    Einmal muss sie warten, der Türmer kontrolliert einen Verschlag. Als sie schon ein paar Treppen weiter sind, kommt ihr der verspätete Gedanke, das könnte eine Toilette gewesen sein und sie hätte sich umziehen können.
    Die Stufen, die Veronika im Aufwärtslauf ohne Probleme genommen hat, sind abwärts fies. Zu hoch, zu schmal für den Fuß, mal breit, mal weniger, je nachdem. Wer die gebaut hat, war ein Sadist. Sie hat sich schon zweimal die Achillessehne geschrammt.
    Wenn sie gesprungen wäre, würde ihr nichts mehr wehtun. Der Stich, der sie bei dieser Vorstellung durchfährt, ist übel, und sie merkt, dass ihre Blase keineswegs leer ist. Bestimmt war das da oben eine Toilette.
    Der Türmer dreht sich manchmal halb nach ihr um. Sie muss hinter ihm bleiben, seit er den Verschlag kontrolliert hat. Er sagt nichts und geht auch gleich wieder weiter. Er nimmt die Stufen ohne einen Mucks. Vielleicht hat er keine Achillessehnen.
    Wenn er nicht wäre! Wenn sie allein wäre oder wenn er sie wenigstens vorauslaufen ließe, könnte sie sich mit dem Gedanken befassen, dass es im Prinzip gar nicht nötig ist, ganz hinaufzusteigen und sich draußen den uferlosen Himmel anzuschauen. Denn der Turm ist hohl. Mehr oder weniger. Und innen so hoch wie außen. Wenn man hinaufrennt, achtet man kaum darauf. Erst hinunter packt einen der Schwindel, weil man die Tiefe registriert und weil sie mit jedem Blick und jedem Schritt schwankt. Die Treppen führen die Außenmauern entlang. In der Mitte ist das tiefe Loch. Ab und zu gibt es Balken für Akrobaten. Oder es kommt etwas Festes: die Glocken. Ein ausgebleichtes hölzernes Laufrad für einen Riesenhamster. Ein verstaubtes Aufzugsgewinde  aus massivem Eisen, das wahrscheinlich noch schwerer ist, als es aussieht. Ein kompliziertes Räderwerk in einem Häuschen. Seile hängen hinab, die man sich nicht erklären kann, denn sie hängen nicht unter den Glocken. Außer den Fenstern in den dicken Mauern sieht Veronika einmal eine Tür in einer Nische, eine Tür ohne Grund.
    Als sie an der Nische vorbei sind, verengt sich alles und wird aus Stein, auch die Stufen, die bisher aus Holz waren. Sie winden sich in einer kühlen steinernen Röhre hinab. Manchmal kommt ein Spitzbogenfensterchen und lässt ein wenig Abendlicht herein. Die Stufen sind uralt und ausgetreten. Unten ist die schwere Holztür, die Veronika dem letzten Japaner aus der Hand gerissen hat.
    Das kann noch nicht sehr lange her sein. Es dürfte sich seitdem nichts geändert haben. Mattis ist weg, er ist einfach fortgefahren, er hat auf der Straße gewendet, er hat Veronika stehen lassen. Vor ihr lag die Ebene mit der kreisrunden Stadt und dem Turm in der Mitte. Dorthin wollte sie - aber er nicht; nein, mit so einem plötzlichen Wunsch durfte sie Mattis nicht kommen. Sie hat dann das Auto wenden hören und hat dabei betäubt und unverwandt zur Stadt und zum Turm gesehen. Umgedreht hat sie sich erst, als sie nichts mehr hörte, als es zu spät war, als Mattis verschwunden war und nicht zurückkehrte, so verzweifelt sie auch hoffte und horchte und es nicht glauben konnte.
    Der Türmer schaut sie forschend
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