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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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Veronika ist viel zu heftig und lebendig hinaufgerannt und hat dann voller Erdenschwere an der Turmmauer geklebt. Welchen Kummer einer Schülerin sie auch immer abschütteln wollte, sich selbst wollte sie jedenfalls nicht loswerden. Der Türmer darf sie vergessen.
    Stufe um Stufe erklimmt er seinen Turm. Der Abend schaut zu den Fenstern herein, er streckt seine rosigen Lichtfinger  aus und berührt die mächtigen Quadersteine und hier und dort das geheimnisvolle Zeichen eines Steinmetzgesellen. An das Geländer gelehnt, sucht der Türmer seine Zeichen, die die meisten Besucher gar nicht wahrnehmen oder für zufällige Krakel halten. Zu jeder Stunde ist das Licht anders, zu jeder Jahreszeit auch. Zwei, drei Abende gibt es, im Sommer, bei günstiger Witterung, an denen ein Zeichen zu sehen ist, das danach wieder für ein Jahr verborgen bleibt. Davon wissen die Historiker nichts, von den Jahreszeiten des Turms, sie richten ihre grellen Scheinwerfer auf die Wände und streiten sich über Zahlen. Ob es sechsundneunzig unterschiedliche Zeichen sind oder hundert.
    Der Türmer steigt weiter, um anderswo stehen zu bleiben. Das hölzerne Innenstützwerk, das die Treppe trägt, hindert den freien Blick. Jedoch nicht überall, große Flächen Quadermauer, unerreichbar für die Hände der Besucher, sind dem Auge zugänglich. Der Türmer weiß, was die Zeichen, die wie Krakel aussehen, bedeuten. Jedes Einzelne ist der in Stein gehauene, Jahrhunderte überdauernde Beweis, dass ein Mensch, ein Mann, atmete, aß, schlief, liebte, lachte und seine Not mit dem Leben hatte. Seine Gebeine sind verfallen, seine Nachkommen wissen nichts mehr von ihm, gar nichts ist von ihm geblieben als der Beweis, den er eines Abends in den frisch gemeißelten Steinblock schlug, zufrieden mit seiner Arbeit, müde, hungrig und mit der Aussicht, sich am nächsten Tag und das ganze Jahr über und alle Jahre seines Lebens dem Behauen von Steinen zu widmen. Worüber er aber vermutlich nicht weiter nachdachte, denn im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot verdienen, hat Gott schon zu Adam gesagt.
    Der Türmer sieht den Mann hinter seinem Zeichen. Er nickt ihm zu. Und dann noch einem. Und einem Dritten, ehe er weitersteigt.
    Oben schließt er seine Türmerstube auf. Das Mädchen  Veronika kommt ihm wieder in den Sinn, ist also noch immer nicht verschwunden. Der Türmer macht seine abendlichen Verrichtungen und spürt den Stachel. Das ist ja nun nicht das erste Mal. Aber hartnäckig ist es diesmal. Als finge ein Organ an, einen ungeliebten Fremdkörper zu umschließen und nicht mehr herauszugeben. Er steigt vor der üblichen Zeit zum Kranz hinauf und geht ohne jeden Grund um den Turm herum. Fünfmal kehrt er wieder und kommt dabei seiner Pflicht nach, bis er Schlag Mitternacht zum letzten Mal den historischen Ruf ausgestoßen hat, den der Türmer dieses Turms alle halbe Stunde ab zweiundzwanzig Uhr auszustoßen hat.
    Danach legt er sich schlafen.
    Die alte Uhr im Turm teilt die Nacht säuberlich in Viertelstunden, ihr Schlag begleitet den Schlaf des Türmers wie sonst auch. Dass er häufiger davon erwacht als in anderen Nächten, liegt an einer bestimmten, ihm gut bekannten Bangigkeit. Wenn sein Gemüt lange Zeit ruhig war und unbewegt wie der Spiegel eines dunklen Teiches, so ist jetzt ein Wind darübergegangen.
     

3
    Veronika sitzt in der Dunkelheit auf ihrem Reisesack und ist so lebensmüde, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Wütend ist sie aber auch und das ist das Gegenteil von müde. Warum kann sie nicht allein sein und sich in aller Ruhe vorbereiten, verabschieden, darauf einstellen, gelassen werden oder was immer man sonst noch braucht? Warum hat sie diesen verfluchten Turm nicht für sich und kann darin auf- und ablaufen, wie es ihr passt, und vielleicht in dem Hamsterrad herumtrampeln, das so ausweglos ist wie ihr Leben, seit Mattis sie verlassen hat? Nein! Lautlos muss sie sein, leiser als ein Holzwurm, und nichts ist hier schwerer als das.
    Als sie gemerkt hat, dass der Mann gar nicht weggeht, sondern im Turm bleibt, ist sie so erschrocken, dass sie momentan nicht wusste, wohin. Sie ist auf Zehenspitzen die Steinspindel hochgehuscht und hat unten seine Schritte gehört. Sie hatte einen guten Vorsprung, und auch die unzähligen Holztreppen nach oben wären kein Problem gewesen - wenn die Stufen nicht so entsetzlich geknarrt hätten, dass Veronika sofort zurückfuhr. Sie hat sich in die Mauernische geduckt, die mit einer Tür
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