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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden
Autoren: Audrey Niffenegger
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PROLOG
    Clare: Es ist schlimm, wenn man zurückgelassen wird. Ich warte auf Henry, weiß nicht, wo er ist, und hoffe, es geht ihm gut. Allein zurückzubleiben ist schlimm.
    Ich sorge dafür, dass ich immer beschäftigt bin. So vergeht die Zeit schneller.
    Ich gehe allein ins Bett und wache allein auf. Ich mache Spaziergänge. Ich arbeite, bis ich müde bin. Ich beobachte, wie der Wind mit dem Müll spielt, der den ganzen Winter unterm Schnee lag. Alles scheint einfach, wenn man nicht darüber nachdenkt. Warum wird die Liebe durch Getrenntsein stärker?
    Früher fuhren die Männer zur See, und die Frauen warteten zu Hause, sie standen am Ufer und suchten den Horizont nach dem winzigen Schiff ab. Nun warte ich auf Henry. Er verschwindet unfreiwillig, ohne Vorwarnung. Ich warte auf ihn. Jeder Augenblick des Wartens erscheint mir wie ein Jahr, wie eine Ewigkeit. Jeder Augenblick ist träge und durchsichtig wie Glas. Hinter jedem Augenblick sehe ich endlos aneinander gereihte Augenblicke warten. Warum ist er fort, und ich kann nicht mitkommen?
     
    Henry: Wie fühlt es sich an? Wie es sich anfühlt?
    Manchmal fühlt es sich an, als wärst du nur ganz kurz abgelenkt. Und mit einem Mal merkst du, dass das Buch, das du eben noch in der Hand hattest, das rot karierte Baumwollhemd mit den weißen Knöpfen, die geliebten schwarzen Jeans und die kastanienbraunen Socken mit der fast durchgescheuerten Ferse, das Wohnzimmer, der Wasserkessel in der Küche, der gleich zu pfeifen anfängt: All das ist plötzlich verschwunden. Du stehst im Graben an einer unbekannten Landstraße, splitternackt und bis zu den Knöcheln in eiskaltem Wasser. Du wartest kurz, um zu sehen, ob du vielleicht gleich wieder bei deinem Buch bist, in deiner Wohnung et cetera. Nach ungefähr fünf Minuten Fluchen und Zittern und dem sehnlichen Wunsch, einfach zu verschwinden, machst du dich auf den Weg, bis du schließlich zu einem Bauernhaus kommst und die Wahl hast, dir etwas zum Anziehen zu klauen oder alles zu erklären. Klauen bringt dich manchmal hinter Gitter, aber Erklärungen sind langwierig, zeitaufwendig und auch mit Lügen verbunden, und außerdem führen sie nicht selten dazu, dass du trotzdem in den Knast wanderst, also was soll’s.
    Manchmal ist es, als wärst du zu schnell aufgestanden, obwohl du noch im Halbschlaf im Bett liegst. Du hörst das Blut in deinem Kopf pochen und hast das Schwindel erregende Gefühl zu fallen. Deine Hände und Füße kribbeln, sind schließlich ganz weg. Du hast dich wieder verloren. Es dauert nicht lange, du kannst gerade noch versuchen, dich festzuhalten oder um dich zu schlagen (wobei du vermutlich dir selbst oder wertvollen Gegenständen Schaden zufügst) und schon schlitterst du über den waldgrünen Flurteppich eines Motel 6 in Athens, Ohio, um 4.16 Uhr morgens, Montag, den 6. August 1981, und stößt mit dem Kopf an jemandes Tür, was dazu führt, dass dieser Jemand, eine gewisse Ms Tina Schulman aus Philadelphia, die Tür öffnet und anfängt zu schreien, weil ein nackter Mann mit aufgeschürfter Haut ohnmächtig zu ihren Füßen liegt. Du wachst mit Gehirnerschütterung im County Hospital auf, und vor deiner Tür sitzt ein Polizist, der sich in einem rauschenden Transistorradio ein Spiel der Phillies anhört. Zum Glück verlierst du erneut das Bewusstsein, nur um Stunden später wieder in deinem eigenen Bett zu erwachen, wo deine Frau sich über dich beugt und sehr besorgt aussieht.
    Manchmal bist du euphorisch. Alles ist erhaben und sehr atmosphärisch, und plötzlich wird dir wahnsinnig übel, und schon bist du fort. Du übergibst dich auf ein paar Geranien in einem Vorort, oder auf die Tennisschuhe deines Vaters, oder wie vor drei Tagen auf deinen eigenen Badezimmerboden, oder auf einen hölzernen Gehweg in Oak Park, Illinois, das war ungefähr 1903, auf einem Tennisplatz an einem schönen Herbsttag in den 1950cm, oder auf deine eigenen bloßen Füße an den unterschiedlichsten Orten, zu den verschiedensten Zeiten.
    Wie es sich anfühlt?
    Es fühlt sich an wie einer dieser Träume, in denen dir schlagartig einfällt, dass du eine Arbeit schreiben musst, für die du nichts gelernt hast, und außerdem nackt bist und deine Brieftasche zu Hause gelassen hast.
    Wenn ich dort draußen bin, irgendwo in der Zeit, ist mein Innerstes nach außen gestülpt, bin ich die verzweifelte Version meiner selbst. Ich werde ein Dieb, ein Landstreicher, ein Tier, das davonläuft und sich versteckt. Ich erschrecke alte Frauen,
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