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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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hat durch die Scheibe gesehen, wie Mattis einen anderen Yogasack ablehnte, den man ihm geben wollte und der eigentlich genauso aussah. Hartnäckig hat er auf das Exemplar in der Auslage gezeigt. Draußen hat Veronika gegrinst und den Kopf geschüttelt und über die gebeugte Gestalt des verwirrten Angestellten hinweg haben sie sich verliebte Zeichen gemacht.
    Es ist ziemlich übel, sich daran zu erinnern. Und es nützt gar nichts, an andere Gelegenheiten zu denken, bei denen Mattis eben nicht spontan war. Sondern sagen konnte, hey, krieg dich wieder, wenn sie etwas Albernes wollte. Nein, jetzt sieht sie ihn nur durch die Scheibe in diesem Laden, wo er großzügig einen viel zu teuren Yogasack für sie kauft.
     

4
    Diesmal ist es hell, als der Türmer aufwacht. Wie oft ist er in den letzten paar Stunden wach geworden? Alle zehn oder zwanzig Minuten, so kommt es ihm vor. Er steht auf. Zeit für den Gang zur Toilette. Zum Inventar der Türmerstube gehört auch ein historischer Nachttopf - der Einarmige hat ihn benützt -, aber er zieht es vor, die eine Etage hinab- und wieder hinaufzusteigen.
    Die Fenster der Türmerstube gehen nach Westen und Norden. Der Widerschein des Sonnenaufgangs liegt am Horizont, am Hügelrand der tellerrunden Ebene, ein grelles, stechendes Licht, das nicht lange währen wird. Der Türmer zieht sich an. Eine Sporthose, einen leichten Pullover; für die nächsten drei Stunden gibt es noch keine Repräsentationspflicht. Er öffnet die Tür und durchquert den Vorraum. Einen Schritt vor dem Treppenabgang bleibt er aber plötzlich stehen. Er dreht sich um.
    In der Ecke hinter dem alten Schrank, in dem er seine wenigen Kleidungsstücke und sonstigen Besitztümer verwahrt, liegt jemand am Boden und trägt seinen Wettermantel.
    Das Einzige, was den Türmer überrascht, ist, dass er nicht überrascht ist. Also doch, sagt er sich sofort, ich wusste, sie ist nicht weg. Das sagt er sich, obwohl er nie daran gezweifelt hat, dass Veronika der Bewegung seines Arms gefolgt und gegangen ist.
    Aber da liegt sie nun. Sie hat die Arme über den schwarzen Sack gebreitet, auf dessen Taschenklappe ihr Name steht, Nick, von Hand mit einem grünen Stift gemalt. Ihr Kopf ist hinabgerutscht, ihr Gesicht halb verdeckt von den spröden Haaren, deren Orangerot so unecht ist wie das Licht an diesem Morgen.
    Der Türmer sieht auf. Die Sonne sticht zum Ostfenster herein und durchdringt den Turm auf ihrem Weg nach Westen, wo eine dunkle Wolkenwand hinter dem Kesselrand heraufkommt. Ein Gewitter am Morgen ist nichts Gutes.
    Das schlafende Mädchen da ist genauso unerfreulich; der Türmer, der sie auf den ersten Blick für eine Zwanzigjährige und später wegen ihrer patzigen Antworten für eine älter aussehende Fünfzehnjährige gehalten hat, entscheidet sich für irgendetwas dazwischen; trotz ihrer pubertären Patzigkeit ist das hier eher eine Frau. Ihr Körper ist ausgewachsen, er erkennt es an der Hand, die der zurückgerutschte Mantel-ärmel freigibt, und an dem wenigen, das von Gesicht, Hals und Nacken zu sehen ist. Ein Bein ragt abgespreizt unterm Mantel hervor, vom zweiten, angewinkelten Bein schaut nur der Fuß heraus. An der Stämmigkeit ihres Körpers wird sich nicht mehr viel ändern; die Hose, die sie trug, saß stramm auf den Hüften und ließ oben ein Stück Bauch und Rücken frei, unvorteilhaft, wie er gefunden hat. Inzwischen scheint sie die Hose gewechselt zu haben, diese hier hat eine andere Farbe.
    »Guten Morgen, Lady«, sagt er.
    Dann beobachtet er, wie das Mädchen langsam zu sich kommt. In dieser Haltung und auf hartem Boden zu schlafen, das bringt nur die Jugend fertig. Oder die völlige Erschöpfung.
    Veronika ertastet den Sack, schiebt matt die Haare aus dem Gesicht, streckt das angewinkelte Bein, stemmt sich auf die Arme und kommt auf die Knie. Ihr Kopf bleibt unten, als  sei er zu schwer, oder als sträube er sich, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Sie erfasst in dieser Haltung ihre Umgebung, den fremden Mantel, auch ihn, den Türmer - oder zumindest seine Beine -, sie gibt einen Wehlaut von sich und bewegt sich dann nicht mehr, ihr Hinterteil ist der höchste Punkt, der Mantel umgibt sie wie ein Zelt.
    Als der Türmer von der Toilette zurückkommt, liegt ihr Reisesack noch am Boden, quer darüber der Mantel. Veronika sitzt auf der Bank in der Fensternische und hat Arme und Gesicht auf dem Fensterbrett liegen, unter der Sonne, die jetzt nicht mehr blendend hell, sondern ungesund rötlich
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