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Das Wolkenzimmer

Das Wolkenzimmer

Titel: Das Wolkenzimmer
Autoren: Irma Krauss
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scheint, eine schwimmende Scheibe.
    Der Türmer kümmert sich nicht um sie, er geht in seine Stube, das sind von der Treppe aus zehn Schritte. Oder dreißig Jungenfüße.
    Dreißig Jungenfüße? Daran hat er lange nicht mehr gedacht. Dass der Junge die Angewohnheit hatte, den Turm mit seinen nackten Füßen auszumessen.
     

5
    Es gibt Tee«, hört Veronika die barsche Stimme des Türmers.
    Tee, ein komisches Wort, eine komische Sache. Da ist sie nun in einem Turm gefangen und zugleich frei, ihn zu verlassen, ist hinterher allerdings tot, was sie ja eigentlich will; da hockt sie zwischen Himmel und Erde einer widerlich roten Sonnenscheibe gegenüber, so widerlich wie ihr eigenes Versagen - aber jemand kocht Tee.
    Tee ist ein Ding wie das Hamsterrad. Solange Tee gekocht wird, solange Tee getrunken wird, geht die sinnlose Runde weiter.
    Wenn ein Hamster stehen bleibt, steht auch das Rad.
    Veronika weiß nicht, ob sie stehen geblieben ist. Sie ist auch nicht in der Stimmung, der Frage zu sehr nachzugehen. So oder so, sie muss jetzt hinunter, hinter die Tür mit der Aufschrift WC. Und links hinein, bei D. Wenn sie das hinter sich hat, kann sie aber vielleicht genauso gut Tee trinken.
    Sie lässt den Reisesack liegen und geht die Treppe hinab, hinter ihr fällt die Glöckchentür zu und lärmt.
    Die Toilette ist eine Kabine mit dem Nötigsten. Im Vorraum ein einfaches Waschbecken aus weißem Porzellan und ein Spiegel. Veronika kneift die Augen halb zu, damit sieht sie immer noch genug. Sie fächert mit den Fingern durch ihre Haare, die vom Färben spröd und strohig sind. Das Färben war ein Missgriff und wurde stümperhaft gemacht. Aber  es war auch ein Protest gegen Dianas gepflegtes Seidenhaar und insofern schon wieder gut.
    Veronika bürstet mit gespreizten Fingern von hinten durch die Strähnen, bis sie ihr ins Gesicht stehen. Dann geht sie wieder nach oben. Sie lächelt nicht, als sie die Tür zur Türmerstube aufdrückt.
    Der Türmer macht eine knappe Geste, die wohl einladend sein soll. Ein Tisch unterm Fenster ist gedeckt. Mit einer Teekanne, zwei Bechertassen, zwei Tellern, Toast und Butter. Veronikas Blick irrt ab. Links steht eine Tür halb offen, dahinter muss eine kleine Küche sein. Die Türmerstube hat drei Fenster, jedes ist in einer Nische in der dicken Turmmauer. Ein Fenster blickt auf das Bett des Türmers, das zweite ist frei zugänglich, in der dritten Nische steht dieser Tisch mit je einer Bank rechts und links. Veronika setzt sich, ohne etwas zu berühren. Im Rücken fühlt sie die Kühle der Mauer.
    Der Türmer schiebt sich ihr gegenüber auf seinen Platz. Er gießt Tee in die Tassen und bestreicht seinen Toast mit Butter. Es kracht, als er hineinbeißt. Die Zeitung, die er aufschlägt, knistert.
    Veronika wendet sich ab. Sie zieht die Beine herauf. Die Tasse in beiden Händen, schaut sie durchs offene Fenster hinaus zum Hügelrand am Horizont und zu den Wolken darüber. Sich hinausbeugen, nach unten schauen, senkrecht am Turm hinab - sie stellt es sich vor, aber es drängt sie nicht dazu.
    Der Geruch des gebutterten Toasts steigt ihr unangenehm in die Nase. Aber er macht ihr auch Appetit. Allein von der Widersprüchlichkeit der beiden Empfindungen sollte ihr übel werden, wenn ihr nicht bereits übel wäre.
    Eine gebutterte Scheibe Toast erscheint in ihrem Blickfeld und hält sich dort in der Schwebe. Veronika greift endlich zu. Krümel rieseln beim Essen auf ihre Beine. Als sie mit  dem Toast fertig ist, dreht sie sich um. Sie nimmt die Beine von der Bank und trinkt von ihrem Tee.
    »Danke«, murmelt sie, die Lippen am Tassenrand.
    Der Türmer nickt nur.
    Veronika stellt unter seinem forschenden Blick, der alles andere als freundlich ist, die leere Tasse weg und senkt den Kopf. Sie fährt sich nach ihrer Gewohnheit mit den Händen von hinten in die Haare und kämmt sie alle nach vorn. Dann legt sie die Stirn auf die gekreuzten Arme. Er soll sie bloß nichts fragen. Er soll sie bloß in Ruhe lassen.
     

6
    Das Mädchen ist jetzt schon eine Nacht, einen Tag, eine weitere Nacht und einen weiteren Tag hier. Bisher hat der Türmer seinen Turm noch nie mit einem Besucher geteilt. Warum Veronika nicht geht, weiß er nicht. So wenig wie er die Frage beantworten könnte, warum er sie nicht wegschickt, hinauswirft, abholen lässt.
    Den ersten Morgen verbrachte sie mit dem Kopf auf dem Tisch, bis er sie verließ. Das Gewitter, das sich angekündigt hatte, löste sich seltsamerweise auf, anstatt sich zu
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