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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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Bedrückt schüttelte er den Kopf.
    Was ist? fragte Helen, die an ihrem Laptop tippte.
    Nichts.
    Hast du dich über etwas geärgert?
    Nein, wieso?
    Schon gut. Wie war es beim Arzt?
    Beim Arzt?
    Beim Kinderarzt.
    Er sah sie leer an und versuchte zu erraten, was sie meinte.
    Du hast es vergessen.
    Er schlug sich gegen die Stirn, mehr als schuldbewussteGeste für Helen denn aus aufrichtiger Zerknirschung. Er hatte versprochen, die Jungen vor dem Kindergarten zur Meningokokkenimpfung zu bringen. Aber, er erinnerte sich, dann war ihm eine SMS von Marie dazwischengekommen, er hatte geantwortet, sie hatte zurückgeschrieben, und so hatte er gedankenfern den üblichen Weg zum Kindergarten genommen.
    War ja nicht anders zu erwarten, sagte Helen.
    Er sagte nichts.
    Es war ja nicht anders zu erwarten, als dass du selbst die geringfügigste Verantwortung für deine Kinder nicht wahrnehmen kannst!
    Ist diese Dramatik nötig? Morgen vergesse ich es nicht, versprochen.
    Morgen! Helens Stimme wurde hoch und schrill. Fang doch heute schon mal mit dem Wichtigsten an!
    Und das wäre?
    Ihre Blicke trafen sich.
    Unsere Kinder!
    Sie schlafen, sagte er. Was verlangst du von mir?
    Mehr, als du geben kannst, Jonas!
    Was zum Teufel soll ich ihnen heute noch geben? schrie er ihr hinterher.
    Sie schlug die Badezimmertür zu. Nachdem er das Schnappen des Schlosses gehört hatte, holte er das Mobiltelefon aus seiner Jacke, die an der Garderobe hing. In diesem Moment hörte er den Piepton. Eine SMS von Werner Handy 2.
    Geschwommen, auf dem weg nach hause. Tel.?
    Hallo Herzbewohnerin! Läuft hier gerade nicht so prächtig. Wäre gern bei dir.
    Ja, das wäre schön. A. ist ausgegangen. Schönen tag gehabt?
    Bitte nicht erschrecken, aber ich muss das fragen: Hast du etwas bemerkt? Könnte A. etwas wissen?
    Die Antwort kam binnen Sekunden:
    Was meinst du?
    Traf heute einen sonderbaren Kerl. Er wusste es.
    WAS???
    Ist mir auch ein Rätsel. Helen steckt nicht dahinter. So gut kenne ich sie, um das mit Sicherheit zu wissen.
    Sie schrieb nicht gleich zurück. Er schlich zu den Jungen hinüber. Die Salzkristalllampe war eingeschaltet. Er beugte sich über die Betten.
    Wie immer löste der Anblick ihrer entspannten Gesichter in ihm etwas aus. Milde, Schwäche, Kapitulation, das Gefühl bedingungsloser Liebe, frei von dem gelegentlichen Missmut, der in ihm aufstieg, wenn sie ihm mit Wünschen in den Ohren lagen oder die Wohnung in ein Schlachtfeld verwandelten. Bisweilen überrollte ihn dieses Gefühl geradezu, dann sah er vor sich auf vier Quadratmetern den Sinn seines ganzen Lebens liegen, und das machte ihm beinahe Angst. Ein andermal wieder konnte er es genießen, konnte er einfach seine Söhne betrachten und sich dem banalen Bewusstsein ergeben, dass er zumindest etwas in seinem Leben richtig gemacht hatte.
    Er gab beiden einen Kuss. Tom auf die Backe, Chris, der auf dem Bauch lag, auf den blonden Hinterkopf. Von ihren Kissen stieg süßlicher Kakaogeruch auf.
    Das ist doch nicht möglich! Wer? Wo? Hast du es jemandem erzählt? Können wir kurz tel.?
    Tel. jetzt ungünstig. Habe es natürlich niemandem erzählt. Sehen uns morgen.
    Sag mir noch, wer das war!
    Weiß nicht. Ein Verrückter. Mach dir bitte keine Sorgen. Werde an dich denken, die ganze Nacht!
    Und ich werde die ganze nacht an deinen verrückten denken!
    Ich NICHT! Weil ich ein vernunftbegabter Mensch bin mit der Eigenschaft, Situationen richtig einzuschätzen.
    Darüber ließe sich diskutieren. Gute nacht, du.
    Er begann in einem isländischen Reiseführer von Venedig zu blättern, den Werner als Scherz von den Kollegen zum Geburtstag bekommen und ihm weitergeschenkt hatte. Er hatte kalte Hände, sein Magen krampfte sich zusammen, seine Beine zuckten. Er setzte sich auf. Mit Tellern und Gläsern lief er zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her, um etwas zu tun zu haben.
    Er wollte nicht, dass Helen etwas erfuhr. Wäre es nicht das Ende der Ehe, so wäre es zumindest das Ende von Vertrauen und Normalität. Vermutlich wäre es aber das Ende von allem. Vor Jahren hatte er einmal mit einer anderen geschlafen und es Helen einige Tage später erzählt. Ihre Reaktion war heftiger, als er erwartet hatte. Eine Woche lang sprach sie kaum mit ihm. Einen Monat darauf schlief sie mit einem anderen, mit wem, sagte sie nicht. Er wusste, wenn sie von Marie erfuhr, war von einem Moment auf den anderen alles vorbei.
    Also: das Ende. Er wusste nicht, ob er dieses Ende wollte. Er wollte Helen verlassen und
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