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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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von Marie gekommen war. Es gab eine von Helen: Ich hab dich lieb! Er schrieb zurück: Ich dich auch!
    Konzentriert arbeitete er den Vormittag durch, das Wummern der alten Klimaanlage über ihm als einzige bewusste Wahrnehmung abseits des Prospekts, mit dem er zu tun hatte. Nur einmal stand er auf, um Nina, die Grafikerin, zu wecken, weil er etwas von ihr brauchte. Sie hatte Schlafstörungen und holte am Schreibtisch nach, was sie nachts versäumt hatte. Tauchte die hohe, dürre Gestalt Wolfs an der Tür auf, stieß Jonas Nina unauffällig an oder schoss ihr einen Radiergummi an den Kopf.
    Alle mal herhören!
    Jonas drehte sich nicht um, er kannte die Stimme.
    Du auch!
    Jonas schwenkte auf seinem Sessel herum. Werner, über zwei Meter groß, mit Markenjeans und einem Kapuzenpullover, in dem er aussah wie ein Rapper, stand in der Mitte des Büros, in der hochgestreckten Hand einen schweren Stein präsentierend.
    Wer von euch hat Nachrichten gehört?
    Ich weiß es schon, sagte einer.
    Was denn? rief Ophelia.
    Nein, was ist los?
    Ist der Kardinal auferstanden?
    Für alle, die es noch nicht wissen, rief Werner, mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:4000 wird uns in zwei Monaten eine sechs Kilometer dicke Variante von dem treffen, was ich in den Händen halte!
    Das ist kein Meteorit, rief der alte Sondheimer, dessen Geburtstag am Vortag gefeiert worden war. Was Sie da haben, ist ein ordinärer Pflasterstein!
    Seien Sie nicht kleinlich, es geht um die Sache!
    Im Büro herrschte allgemeine Gleichgültigkeit. Generell taten die meisten Kollegen so, als sei ihnen alles egal, Abgabetermine, private Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen, und so löste diese Nachricht keine Aufregung aus. Die Leute rund um Jonas trugen Brillen mit dunklem Rahmen, interessierten sich für Musik, Kunst, Literatur, Reisen sowie Jugendkultur und verjubelten ihr Geld in Vinotheken, Fischlokalen und an Drogenumschlagplätzen. Einige tranken ab zehn Uhr vormittags, was aufgrund flacher Hierarchien toleriert wurde, von Wolf abgesehen, dem Geschäftsführer, der sich jedoch nicht oft blicken ließ. Zu ihrem Selbstverständnis gehörte ein schickes Phlegma, mit dem selbst allerschlimmste Nachrichten aufgenommen wurden.
    Noch was! rief Werner. Wie nennt man einen Schwarzen, der ein Flugzeug fliegt?
    Die Leute murmelten und gackerten, aus einer Ecke tönte: Black Power?
    Pilot nennt man ihn, ihr miesen Rassisten!
    Einige lachten, andere schimpften, die meisten blickten bereits unauffällig auf Online-Nachrichtenseiten. Jonas nicht, er wollte sich nicht die Blöße geben, eventuell auf einen Scherz Werners hereingefallen zu sein. Dem Verfasser einer mit drastischen Illustrationen ausgestatteten Broschüre mit dem Titel 66 Arten, eine Katze zu quälen , der in Wahrheit ein fanatischer Tierfreund war, traute Jonas noch ganz andere Finten zu. Stattdessen rief er den Stand seiner Aktien ab.
    Als er die Zahlen sah, hielt er sie für einen Irrtum. Er fühlte Hitze in sich aufsteigen.
    Das ist nicht möglich, dachte er, vielleicht bin ich im falschen Konto, ist es Helens Konto? Er las seinen Namen, zweimal, dreimal. Er las die Zahlen. Sie schienen zu stimmen. Sie mussten stimmen. Obwohl es schwer zu glauben war, dass seine Aktien binnen vierundzwanzig Stunden im Schnitt um fast fünfzehn Prozent gestiegen waren, und zwar besonders jene, die er gegen den Rat seines Finanzberaters in sein Portfolio aufgenommen hatte.
    Er ballte die Faust und unterdrückte ein Jauchzen. Ihm ging es nicht so sehr um den finanziellen Gewinn, sondern darum, ein Spiel gut zu spielen, besser als andere, besser als die meisten, und in den vergangenen Wochen hatte er darin einige Enttäuschungen erlebt. Das hier wog alles mehr als auf.
    Er holte sich einen Becher Kaffee und ging mit einem Gefühl von Heiterkeit und Stolz wieder an den Schreibtisch.Die Drei Schwestern waren eine große, ehemals erfolgreichere Werbeagentur, die mittlerweile auch weniger glamouröse Aufträge übernahm, und Jonas gehörte zu jenen in der Firma, die für die niederen Dienste zuständig waren. In dieser Woche hatte er mit dem Prospekt einer neuen Autowäscherei zu tun. Der Aktiengewinn ließ ihn eifrig weiterarbeiten, obwohl ihn die Sache nicht im Geringsten interessierte.
     
    Der greise Gründer der Drei Schwestern , der in seinen letzten Jahren wahnsinnig geworden war, hatte verfügt, jeder Mitarbeiter müsse eine Stunde jedes Arbeitstages im Freien verbringen, und die Agentur, von der Spitze bis zum
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