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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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Fernbedienung fand er nach einigem Suchen im Kühlschrank.
    Breaking news. Die aufgeregte Stimme eines Reporters. Offenbar ging es um eine Seilbahn.
    Der Asteroid? fragte Werner.
    Keine Ahnung. Eben erst eingeschaltet.
    Es sind Gondeln abgestürzt, sagte Anne im Hörer, eine Seilbahn in den Bergen!
    Jonas gab die Information an Werner weiter und fragte Anne:
    Weißt du, wo das ist?
    Ich weiß nur, dass noch eine Gondel auf dem Seil hängt und die Leute evakuiert werden sollen.
    Auf dem Bildschirm sah man Uniformen von Polizei und Feuerwehr. Ein Kommentator meldete sich, schwieg wieder, mit der Leitung klappte etwas nicht. Eine verwackelte Großaufnahme zeigte Eingeschlossene in der bedrohlich schwankenden Gondel. Die Menschen winkten, Jonas sah Skihandschuhe, Rucksäcke und Teleskopstöcke. Im Hintergrund knatterte ein Hubschrauber, ab und zu ertönten hysterische Schreie eines Mannes, von denen nicht klar war, woher sie stammten. Selten warendie Bilder scharf, die improvisierte Übertragung wurde immer wieder von Störungen unterbrochen.
    Sie sind über hundert Meter abgestürzt, sagte Anne.
    Meine Güte, wie ist denn das zugegangen?
    Weiß man nicht. Wahrscheinlich sechzig oder siebzig Personen. Das ist entsetzlich! Die Kinder! Hoffentlich kriegt man wenigstens die Übrigen runter. Ich muss aufhören, ich habe jetzt Therapie.
    Sag mir danach, wie es gewesen ist! rief er noch, aber sie hatte bereits aufgelegt.
    Jonas starrte auf den Schirm. Mein Himmel, dachte er, helft diesen Leuten, bringt sie da raus!
    Er warf sein Mobiltelefon neben den Stapel Grafiken und Konzeptpapiere auf seinem Schreibtisch und versuchte, mit der Autowäscherei und ihrem neuen Superwachs zurechtzukommen. Um die Fernsehbilder kümmerte sich keiner der Kollegen. Auch Sondheimer, der seines hohen Alters wegen oft den Kunden vorgestellt wurde, obwohl er so gut wie nicht arbeitete und sich die meiste Zeit als bisexuelle Zwanzigjährige in Chatrooms herumtrieb, setzte unbeeindruckt seine Internet-Kartenspiele fort: Er habe im Leben genau so viel Unglück gesehen, wie er verkraften könne, und werde sich nie wieder einem neuen widmen.
    Jonas machte eine Handbewegung, die anzeigte, dass er dazu keine Meinung hatte. Er zeichnete Autos unter Duschen, bis er es nicht aushielt und wieder zum Fernseher ging. Er war der Einzige im Flur. Sogar in der Raucherecke stand niemand.
    Aus einem Hubschrauber seilte sich ein Helfer ab und nahm aus den Armen einer Frau ein Kind entgegen. Wieder wurde kurz der Kommentator zugeschaltet, dessenStimme sich überschlug, als die Gondel stark zu schwanken begann.
    Jonas schaute hin, schaute weg. Schaute wieder hin.
    Langsam wurde der Retter mit dem Kind nach oben gezogen. Hinter den Fenstern der Gondel sah man Menschen winken, gestikulieren, telefonieren, miteinander kämpfen. Die Kamera schwenkte auf die Orte, wo offenbar andere Gondeln abgestürzt waren. Trümmerfelder. Dunkler Rauch, Nebel, ein Schäferhund sprang herum.
    Unten in der Kantine, die sich Drei Schwestern mit anderen Firmen teilte, trank Jonas einen Espresso. Wie durch Watte hörte er die Geräusche seiner Umgebung, das Klappern von Geschirr und Besteck, leises Lachen, ab und zu einen Ausruf. Umso intensiver nahm er die Gerüche wahr, den frisch gemahlenen Kaffee, das Rasierwasser eines Kollegen, durch das offene Fenster den Sommerduft von heißem Asphalt und blühenden Bäumen, auf die es lange nicht geregnet hatte. Menschen, die an ihm vorübergingen, bemerkte er kaum. Er dachte an die Eingesperrten. An die Szenen, die sich in genau dieser Sekunde an jenem anderen Ort abspielten. Dachte an etwas anderes.
    Ein Vogel flog am Fenster vorbei. Jonas fragte sich, was er tun würde, wenn sein Seelenheil davon abhinge, diesen Vogel wiederzufinden. Diesen Vogel musste er ein zweites Mal sehen, das war die Aufgabe, sein Blick musste ihn treffen. Wie würde er das anstellen? Wo suchen? Wie hatte der Vogel überhaupt ausgesehen, was war es für eine Art gewesen? Hatte er eine Chance?
    Er fuhr wieder hinauf. Nina stand allein im Flur. Gerade seilte sich wieder ein Retter ab.
    Sind noch viele drin? fragte Jonas halblaut.
    Alle. Der Wind war zu stark. Ein Kind haben sie, sonst ist niemand rausgekommen.
    Jonas schaute auf die Gondel, auf das Seil. Hoffentlich werden nun alle gerettet, dachte er, hoffentlich.
    Das Seil riss. Die Gondel stürzte aus dem Bild.

4
    Der alte Mann an der Rezeption nannte ihm halblaut und ohne ihn anzusehen, die Zimmernummer. Weil Jonas Angst
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