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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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hat er sich anders entschieden. Er will jetzt das Haus, unbedingt.
    Und du? Was willst du?

5
    Im Flur brannten nur noch die Spots, die Kinder schliefen also schon. Enttäuscht stellte er die Einkaufstasche, in der Weinflaschen leise klirrten, in die Küche.
    Er hörte Helen rufen. Sie lag mit einem Buch im Schlafzimmer. Er winkte ihr durch die halb geöffnete Tür zu und ging ins Kinderzimmer, das von der Salzkristalllampe schwach erleuchtet war.
    Mit einem Gefühl umfassender Zärtlichkeit blickte er auf ihre struppigen kleinen Köpfe. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er es wieder nicht rechtzeitig geschafft hatte und weil er zudem auf den Grund seiner Abwesenheit nicht stolz war. Dabei hätte er alles für die beiden getan. Beim bloßen Gedanken daran, ihnen könnte Böses widerfahren, wurde er schwach und zornig.
    Abermals rief ihn Helen. Auch im Schlafzimmer herrschte dämmriges Licht. Sie war nackt und hatte die Decke zurückgeschlagen.
    Hast du von diesem Unglück gehört? fragte er.
    Sie deckte sich wieder zu.
    Mama hatte mich angerufen, sagte sie, ich habe es im Fernsehen miterlebt.
    Ich sehe noch dieses Kind, das sie als Einziges rausgeholt haben.
    Hundertzweiundsechzig.
    Was? rief Jonas. Knapp hundert, dachte ich.
    Glaubte man zunächst. Die Gondeln waren überfüllt.
    Jonas konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, er starrte über sie hinweg auf das Foto von Tom und Chris an der Wand. Roch er zu stark nach Duschgel? War sein Atem zu frisch? Konnte sie ihm nicht an den Augen ablesen, wo er herkam?
    Er setzte sich auf den Bettrand und gab Helen einen flüchtigen Kuss auf den Mund.
    Dann weißt du sicher auch schon vom Asteroiden?
    Beunruhigt mich nicht sehr, sagte Helen.
    Lass uns nachrechnen. Die Chance, dass er uns trifft, liegt bei 1:4000. Das bedeutet zugleich, dass jeder viertausendste Mensch glaubt, dass er uns trifft, und demnächst in Hysterie verfallen wird.
    Was ist denn das für eine Rechnung?
    Ist doch logisch. Psychologische Mathematik.
    Ich rate dir, früh schlafen zu gehen.
     
    Nachdem er möglichst lautlos den Einkauf ausgeräumt hatte, sah er sich eine Sondersendung über den Seilbahnabsturz an. Fotos von Verunglückten wurden gezeigt. Es waren auch zwei Prominente ums Leben gekommen, ein Fernsehkoch und eine ehemalige Staatssekretärin. Über das Kind und seine Herkunft erfuhr Jonas nichts.
    Um Neuigkeiten über den Asteroiden zu erfahren, zappte er durch alle Kanäle. Die Wahrscheinlichkeit für einen Einschlag auf der Erde gab man nach neuesten Berechnungen mit 1:10.000 an. Jonas war ein wenig enttäuscht. So verlor das Thema an Brisanz, und die Berichterstattung würde nachlassen.
    Am Computer rief er sein Foto auf amisexy.com auf, wo User die Attraktivität anderer User benoten konnten. Er hatte drei neue Bewertungen, zweimal neun, einmalHöchstnote zehn, wodurch sich seine Gesamtnote von 6,3 auf 6,5 gesteigert hatte. Beschwingt las er einige Benutzerprofile, dann erinnerte er sich an die Fotos in seiner Jacke.
    Er verteilte die Bilder auf dem Wohnzimmertisch. Jenes, das er am Ersten des Monats von sich gemacht hatte, schob er beiseite. Sie waren alle gut, doch etwas Besonderes schien nicht darunter zu sein. Nach längerem Betrachten gefiel ihm das Foto am besten, das er einige Tage zuvor auf einem Markt aufgenommen hatte. Es zeigte viele Menschen von vorne, in ihrer Bewegung, ihrem Gespräch erstarrt. Dieses eine klebte er in sein Album, die anderen steckte er in eine Schuhschachtel. Sein Porträt legte er auf den Stapel der anderen Fotos, die er in den vergangenen Jahren jeweils am ersten Tag eines jeden Monats von sich gemacht hatte, mit immer demselben neutralen Hintergrund.
    Astor sprang schnurrend auf seinen Schoß. Während er die speichelnde Katze kraulte, betrachtete er das Marktbild.
    Ein Mann mit roter Baseballkappe, dem sein Eis gerade von der Tüte kippte. Ein brünettes Mädchen, die Stirn gerunzelt, Zigarette zwischen den Fingern, dessen vulgärer Mund jemandem etwas zuzurufen schien. Eine alte Frau, wie traumverloren. Offene Münder, Blicke, Masse, Anonymität. Ein Moment. Das war es. Deswegen machte er Fotos. Diese Sekunde hatte es gegeben, ohne dass sie jemand als solche wahrgenommen hatte. Eine Linie bestand aus einzelnen Punkten, die niemand sah. Die Zeit war eine Linie, und das hier war ein Punkt.
    Um zwölf kroch er mit sachten Bewegungen ins Bett und knipste das Licht aus. Neben sich fühlte er Helens dünnen Körper. Er legte sich so hin, dass sein Bein
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