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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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schrie sie.
    Er schaute. Aber es war keines mehr da. Stattdessen klaffte vor ihnen eine bizarre neue Landschaft auf, mit Felsen, an denen Korallen und Muscheln klebten, mit Pflanzen und Gewächsen, die er noch nie gesehen hatte, und mit tiefen Gräben. Da und dort schlug ein Fisch matt mit der Schwanzflosse auf den Stein oder Felsen, auf dem er liegen geblieben war.
    Sie liefen zur Anlegestelle. Das Boot steckte zehn Meter unter ihnen in einer Felsspalte. Sie sahen sich an. Maries Blick war ernst, ihre Nasenflügel zuckten. Sie band ihre Haare im Nacken zusammen und löste den Knoten gleich wieder.
    Vielleicht wird es nicht so schlimm, sagte sie.
    Er sagte nichts. Er sah sie an, sah ihren Bauch, ihre Beine, seine nackten Füße. Er sah seine Zehen. Die Erde.
    Sie hielten auf der Insel Ausschau nach Schutz, nach irgendetwas, wohin sie sich flüchten könnten, doch es gab nichts. Jonas hob mit einer Geste des Bedauerns die Arme, doch mit einem Mal fühlte er sich frei. Wird wohl einfach kommen müssen, sagte er.
    Ja, sagte Marie.
    Sie trat zu ihm, legte ihre Arme auf seine Schulternund sah ihn an. Sie hielten einander umschlungen, bis ein scharfes Fauchen ertönte. An der Stelle, aus der es gekommen war, sausten Tausende von Eidechsen schreiend auf sie zu. Sie huschten um ihre nackten Füße, rannten an ihnen vorbei und verschwanden in Erdlöchern, zwischen Steinen und in hohlen Baumstämmen, während die, die keinen Platz mehr fanden, sich an der Anlegestelle in die Tiefe stürzten.

21
    Weit draußen war etwas. Erhob sich dunkel. Es musste eine Täuschung oder eine Spiegelung sein, weil es sichtlich sehr weit weg war und nicht so groß sein konnte.
    Für eine Sekunde schien sich die Welt nicht weiterzubewegen. Als sei alles außerhalb Jonas erstarrt, während in ihm die Vorgänge seines Lebens nicht anhielten, sondern im Gegenteil sein Ich sorgsam und eisern vorantrieben.
    Eine Sekunde. Und abermals: eine Sekunde.
    Ein Schnappschuss.
    Ein zweiter dunkler Turm erhob sich an der linken Seite des Horizonts. Züngelte hoch, wuchs zur Mitte hin, verschmolz mit dem ersten, hob und hob sich weiter. Eine Wand kam. Eine unaufhörlich wachsende Wand kam. Was da auf ihn zurollte, hatte kein menschliches Auge vor ihm gesehen.
    Marie bewegte die Lippen, aber er hörte sie nicht. Er war taub.
    Das Bild seiner Welt wackelte. Hielt für eine Sekunde an. Ein gigantischer Tanker stand in der Welle kopf, den Bug nach unten, das Heck ragte ein kurzes Stück über den Kamm der Welle hinaus. Für diese eine Sekunde stand die Wasserwand vor ihm wie ein Bild. Er sah den Tanker, er sah kleinere Schiffe, er sah Yachten, Fischkutter, Boote, sogar ein Sportflugzeug. Er sah eine Million Vögel. Einer davon kam ihm bekannt vor. Er sah etwas, das Ähnlichkeit mit einem Haus hatte.
    Schwarz raste die Welle weiter. Es war, als würde Jonas selbst auf einen Berg zufliegen.
    Er wandte sich Marie zu. Sie betrachtete ihn offenbar schon länger. Das Bild, das er sah, schien zu ruckeln wie eine DVD mit Kratzern. Eine Sekunde Standbild. Wirklichkeit und Zeit vereinigten sich wieder. Brachen abermals auseinander. Er fühlte Maries Haut, obwohl sie einen Meter neben ihm stand. Sie sah ihn an, nicht ängstlich, nicht traurig, sondern fest und vertröstend. Er grüßte den kleinen schwarzen Punkt in ihrer Iris.
    Die Welle rollte heran, die Sonne verdunkelnd. Es wurde Nacht. Aber er nahm noch wahr, wie Marie ihm bekräftigend zunickte. Er spürte ihre Hand auf der Schulter. Er nickte ihr ebenfalls zu. Ich will. Ich werde.

22
    Und das nun war sie. Das war eine Sekunde. Eine einzige Sekunde. Eine zufällige, lange, alte Sekunde, hier und jetzt, jetzt und einst, eine von Milliarden und Abermilliarden.
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