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0815 - Die Schlangenschwester

0815 - Die Schlangenschwester

Titel: 0815 - Die Schlangenschwester
Autoren: Christian Montillon
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1. Zehn Tage vorher:
    Königin der Clochards
    »Was meinst du damit, meine Macke?«, fragte Sandrine, die Pennerin.
    Ja, sie war eine Pennerin, und sie war stolz darauf, aber wehe, jemand hätte sie so genannt - es wäre demjenigen nicht gut bekommen. Obdachlos wäre schon eher ein akzeptabler Begriff gewesen, aber am besten war es, ihre soziale Stellung überhaupt nicht zu erwähnen. Darauf reagierte sie allergisch; ein Zornausbruch war keine Seltenheit.
    »Du bist einfach zu perfekt, um wahr zu sein«, erwiderte Jorge. »Ich bin erst seit einem Tag bei euch in eurem wundervollen Paris, und dies ist die erste Brücke, unter der ich mein Lager aufgeschlagen habe…« Er legte eine dramaturgische Pause ein. »Du bist die erste Person, die ich hier kennen lerne, und du bist einfach wunderbar!«
    Jorge, ebenfalls obdachlos, aber angeblich ein Weltenbummler, der behauptete, schon unter Brücken und in Schrotthäusern der ganzen Welt geschlafen zu haben, seufzte. »Du bist klug, hübsch, intelligent - du müsstest die Königin dieses Landes sein!«
    Er deutete spielerisch eine Verbeugung an, dass ihm seine langen braunen Haare vor sein Gesicht fielen.
    »Es tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber Frankreich hat keine Königin.« Sandrine zeigte ein schwaches Lächeln. Es gefiel ihr, derart hofiert zu werden, das musste sie sich selbst gegenüber zugeben.
    »Ich weiß!« Jorge hob die Arme und zeigte auf die Seine, die träge durch die Abenddämmerung floss und auf deren Fluten sich die untergehende Sonne in einem atemberaubenden Orangerot spiegelte. »Doch du müsstest wenigstens die Königin aller Clochards sein!«
    »Königin der Penner… wie schmeichelhaft«, brummte Sandrine. Sie hob die Augenbrauen an.
    »Wie deine blauen Augen blitzen«, schwärmte Jorge. »Als seien es Diamanten, die…«
    »Schon gut«, wiegelte Sandrine ab. »Ich weiß, dass…«
    Auch sie kam nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu sprechen. »Und deshalb, weil ich nicht glauben kann, dass ich so einfach nach Paris spaziere und hier die Perfektion schlechthin finde, musst du einfach eine Macke haben. Einen Spleen, einen Tick.«
    »Ich fresse gern Menschen«, antwortete Sandrine.
    Für einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen, dann lachte Jorge laut auf. Als sie mit einstimmte, ließ er sich völlig gehen und lachte lauter und lauter, bis er sich schließlich vor Vergnügen auf die Schenkel schlug.
    Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt so sehr amüsiert hatte, dass ihm das Wasser aus den Augen geschossen war. Die Bauchmuskeln schmerzten ihn sogar, während er immer wieder über diese Antwort nachdachte. Diese Frau war brillant! Das war doch filmreif: Ich fresse gern Menschen!
    Deshalb war sein Blick verschleiert, als sich Sandrines Rücken krümmte und ihre Haut plötzlich von Fell überzogen wurde. Er glaubte an eine Sinnestäuschung, als sich ihr Mund zu einer Schnauze vorwölbte. Die Zähne wuchsen, wurden zu Hauern.
    Aus Gründen, die Jorge selbst nicht verstand, fing sich sein Blick an den Augen, die sich weit in die Höhlen zurückzogen und deren Iris sich veränderte, zu einem dunklen, glühenden Rot wurde, während rings um die Augenhöhlen Fell spross…
    Der Bedauernswerte konnte nicht einmal dann aufhören zu lachen, als Schmerzen ihn durchzuckten. Krallen bohrten sich in sein Fleisch, ein Raubtiergebiss versenkte sich in seinem Nacken…
    Sandrine - wenn man die Kreatur mit einem menschlichen Namen versehen wollte - hinterließ eine schmierige, nur langsam dünner werdende Blutspur.
    Als das Blut aufhörte, von ihrem Fell zu tropfen, sprang das Monstrum ins Wasser und schwamm über die Seine. Die letzten Blutreste wurden ausgewaschen und färbten das Wasser für einen kurzen Moment lang rot.
    Nicht mehr die untergehende Sonne spiegelte sich auf den Fluten, sondern ein grellorange leuchtender Vollmond.
    ***
    Als der Mond verschwand, zog sich auch das Fell zurück. Die Haare schrumpften in die Haut, und entsetzliche Schmerzen wüteten durch den Körper Sandrines. Sie krümmte sich zusammen und schrie, als die Gelenke sich zurück zu ihrer menschlichen Gestaltung formten, als ihre Knochen schrumpften und die Beinmuskulatur in Sekundenschnelle verkümmerte.
    Sie wälzte sich vor Schmerzen über den Boden, bis es endlich vorbei war. Nackt und zitternd lag sie da, die kurz geschnittenen schwarzen Haare schweißnass.
    Jetzt, da sie langsam wieder menschlich wurde, betrachtete
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