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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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verziert, und elektrische Kerzen hingen an Schnüren von der Decke. Eine junge Frau mit Kopftuch, die ihn an Anne erinnerte, sank auf die Knie. Vater, ich bin eine einfache Frau, aber ich weiß, was Unrecht ist, und was mir geschieht, ist Unrecht, denn ich habe das nicht verdient, und du weißt, dass ich besser bin als sie.
    Ein kleiner schwarzer Junge, der etwa in Toms Alter war und vorne bei der Band auf dem Schoß eines Mannes saß, klopfte auf die Trommel vor sich. Der Mann, offenbar sein Vater, reagierte lange nicht, obwohl das Trommeln die Ansprache störte. Schließlich nahm er sanft die Hand des Jungen und drückte seine Lippen auf den kleinen Kopf mit den schwarzen Krausehaaren. Vater, ich will Frieden haben und in Frieden leben, ich schlage Emily nie wieder, ich habe gesündigt, ich will endlich Frieden im Herzen haben
    Was ist los mit dir? flüsterte Marie.
    Nichts, flüsterte er zurück. Was soll los sein?
    Geht es dir nicht gut?
    Ein Mann vor ihnen machte Pst. Jonas deutete mit den Händen eine Entschuldigung an.
    Beim nächsten Lied sangen wieder alle mit und klatschten dazu, auch die Gläubigen in den Bänken. Einbetrunkener Weißer stolperte herein, stierte eine Minute lang vor zur Band, zog plötzlich sein T-Shirt aus und begann bäuchlings über den Mittelgang zum Altar zu kriechen, wobei er heulende Laute ausstieß. Auch wenn du mich nicht willst und nie wolltest, will ich dich, aber das hier, dieses Leben will ich nicht. Oh Gott, hilf mir, und tu es bald, verdammt noch eins, du alter Verbrecher
    Singend griff der Priester nach einem Gefäß mit Weihwasser. Nach links und rechts Wasser versprühend, segnete er die Band und die Menschen in den Bänken und ließ nicht einmal den stiernackigen Weißen auf dem Boden aus. Ihr seid alle Verlorene, und Gottes Segen könnte euch heilen, aber ich misstraue euch! Ihr Pack! Ihr habt den rechten Glauben nicht und werdet ihn nie haben. Nehmt diesen Segen und erweist euch seiner würdig, aber ich weiß, ihr seid seiner nicht würdig und werdet es nie sein.
    Jonas tippte Marie auf die Schulter und ging. Um nicht umzufallen, lehnte er sich draußen gegen die Kirchenmauer. Er zwang sich, an nichts zu denken. Sich auf die Geräusche ringsum zu konzentrieren, auf die Essensgerüche, die in der Luft lagen. Vor ihm: das Meer. Schweigendes Blau, weiß gekrönt.
     
    Sie machten eine weitere ziellose Runde durch den von Touristen belagerten Ort. Rummelplatzmusik wechselte sich mit Discogewummer ab, eine Spielhalle folgte auf die nächste, und alle fünf Meter wurde Eiscreme verkauft. Marie zog Jonas an sich und schob ihm ohne Vorwarnung die Zunge in den Mund. Einer älteren Frau hob sie den Sonnenhut auf, den der steife Seewind davongetragen hatte. Einem Jungen, der gestürzt war, sich aber nichts getan hatte, fuhr sie auf dessen Skateboard davon, und Jonasfand sich inmitten einer lachend hinter ihr herhetzenden Jungenmeute wieder. Sie bestand darauf, dass sie sich beide mit einem Tigerjungen fotografieren ließen, weil sie das auch als Kind gemacht hätte, und beteuerte, der Mann, der mit dem kleinen Tier in der Fußgängerzone stand und für ein Foto unverschämt viel Geld verlangte, sei derselbe wie damals.
    Hinter dem Hauptplatz wurde auf einer Großleinwand ein Fußballspiel übertragen. Gerade war ein Tor gefallen, und die Leute umarmten einander und schrien Parolen. Jonas blieb stehen. Ihn verstörten solche Bilder immer wieder aufs Neue. Ob es eine Live-Übertragung von einem anderen Kontinent war oder nur in den Nachbarort geschaltet wurde – immer wunderte es ihn ein wenig, dass diese andere Wirklichkeit möglich war. Dass sein Hier und Jetzt nicht die einzige Wahrheit war.
    Es ist Zufall, nicht wahr? fragte er Marie unvermittelt.
    Es ist Zufall, antwortete sie ohne Zögern.
    Ein kleiner Junge saß weinend am Straßenrand. Er hatte Nasenbluten. Marie setzte sich zu ihm und legte den Arm um seine Schulter.
    Was ist denn mit dir passiert, du Armer? Bist du hingefallen?
    Er nickte. Marie zog ein Taschentuch heraus, tränkte es mit Mineralwasser und begann ihm das Gesicht abzuwischen.
    Wie heißt du? Wo sind deine Eltern?
    Er antwortete nicht. Marie wischte ihn sauber, gab ihm zu trinken und fand auch ein Kaugummi in ihrer Handtasche.
    Können wir etwas für dich tun? Hast du große Schmerzen?
    Der Junge grinste und schüttelte den Kopf. Mit seinen schmutzigen Händen griff er nach Maries Haar. Sie ließ es ihn kurz berühren, dann gab sie ihm eine Münze. Der
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