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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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geholfen werden. Es ist nichts Schlimmes. Du bist ein Mensch, das ist alles.
    Ich will ja nicht haarspalterisch klingen, aber deine letzten beiden Sätze widersprechen sich. Außerdem glaube ich, dass es den falschen Arzt gibt.
    Na, das mal bestimmt. Meiner ist recht gut, glaube ich.
    In der Ferne ertönte eine Schiffssirene. Jonas stellte die leere Schüssel neben sich auf der Brüstung ab.
    So meine ich es nicht, sagte er. Ich meine, der falsche Typ. Es ist nicht leicht zu erklären. Drücken wir es so aus: Für dich kann der Arzt X ideal sein, während er für mich eine Katastrophe wäre. Derselbe Arzt – den einen Patienten heilt er, den anderen nicht. Weil Arzt und Patient nichtzusammenpassen. Ein guter Arzt, ein williger Patient, die Krankheit X, Heilung. Ein guter Arzt, ein anderer williger Patient, dieselbe Krankheit X, keine Heilung.
    Ich wäre trotzdem froh, wenn du für den Anfang zu irgendeinem Arzt gehst. Ob er dann der richtige ist, wirst du ja sehen.
    Ich frage mich nur, ob mir ein Arzt helfen kann.

11
    Ein Fischer vermietete ihnen das Haus seiner verstorbenen Tante. Es war klein, alles darin war klein, die Tische, die Stühle, die Betten, die Kandelaber, die Gläser. Im Obergeschoss fanden sie zu ihrer Überraschung ein Poolbillard, auf dem sich der Staub von Jahren abgelagert hatte, und im nächsten gar einen Flügel, der sie rätseln ließ, wie er über die Treppe herauf- und durch die schmale Tür geschafft worden war, denn das Fenster, so groß wie ein Bullauge, kam als Transportweg schon gar nicht in Frage.
    Jonas schleppte sich durch den Tag, durchdrungen von einem Gefühl müder, zuversichtlicher Dankbarkeit wie nach einer überstandenen Krankheit. Er schlich neben Marie durch die Straßen und war glücklich, hier zu gehen, Marie zu berühren, streunende Katzen zu kraulen und aufs Meer hinauszuschauen, wo an den hölzernen Stegen Fischerboote auf den Wellen schwappten und weit draußen gewaltige Tanker über den Horizont zogen. Er war zufrieden mit dem, was er war und was er hatte.

12
    Am Morgen darauf waren überall im Ort Menschen unterwegs, die die Straßen von Seegras und Schlamm befreiten. Die Flut hatte sogar ein Garagentor am Hafen eingedrückt. Zum Glück lag das Haus der Tante auf einem Hügel, wo dem Auto nichts passieren konnte.
    Sie frühstückten in einer Fischerkneipe. Ringsum wischte und putzte alles, vom langsamen Alten bis zum ungeschickten Kind. Jonas und Marie wechselten einen Blick. Jonas seufzte und schob seinen Teller weg, auf dem ein halb gegessenes Sandwich lag. Marie verlangte vom Wirt Eimer, Schrubber und Putzlappen.
    Jonas schrubbte, Marie kümmerte sich um das Auswringen und das frische Wasser. Sie arbeiteten mit den anderen, Marie in einem weiten, alten, ausgebleichten T-Shirt ohne Ärmel, die Haare im Nacken zusammengebunden. Nach zwei Stunden starrten die Straßen und Plätze nicht mehr vor Schmutz, und auch die Hausmauern sahen nicht mehr so aus, als müssten sie neu verputzt werden.
    Der Wirt stellte Jonas und Marie Schnaps hin und sagte, er heiße Franco. Sie gaben ihm die Hand. Am Schnaps nippte Jonas nur. Marie trank beide Gläser aus, bekam rote Augen, ließ sich auf ein Kartenspiel mit den Fischern ein und gewann den Gegenwert von einer Woche Aufenthalt im Tantenhaus.
    Sie legten sich an den Strand. Marie klappte ihr Notebook auf und suchte im Web nach Nachrichten über die Wassereinbrüche.
    Du wirst nichts finden, sagte Jonas, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und sich auf die kleinen Kratzer auf seiner Netzhaut konzentrierte, die hinter seinen Lidern zu schweben schienen wie Luftblasen.
    Warum glaubst du das?
    Weil das alles Zufall ist.
    Alles ist nicht Zufall, Jonas.
    Alles nicht. Aber das.
    Wieso glaubst du das?
    Das weiß ich nicht. Weiter kann ich nicht denken, weil ich dem Gedanken ausweichen muss. Ich kann nur hoffen, dass es aufhört.
     
    Er schlief so früh ein wie seit Jahren nicht. Als er erwachte, hing die Morgensonne im Fenster. Er warf einen Blick auf die schlafende Frau neben sich. Ihr Mund stand halb offen, ihre Züge waren entspannt.
    Leise zog er sich an, küsste Marie auf die nackte Schulter und machte einen Spaziergang. Trotz der frühen Uhrzeit tauchte er in geschäftiges Treiben ein. Der Maler mit dem schwarzen Zopf und der Baskenmütze baute seinen Stand mit van-Gogh-Kopien auf. Seine Freundin, die Wahrsagerin, schnitt auf ihrem Stuhl hinter dem Kartenpult einem Jungen die Haare. Der dicke Wirt, unrasiert und
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