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Burgfrieden

Burgfrieden

Titel: Burgfrieden
Autoren: Sigrid Neureiter
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    Blasius Botsch, Direktor auf Schloss Runkelstein bei Bozen, faltete die Bügel seiner Brille ineinander und verstaute die Sehhilfe in dem dafür vorgesehenen Etui. Mit leicht gerunzelter Stirn betrachtete er die holzvertäfelte Tür, die von seinem Büro zum Zimmer seiner Mitarbeiterin führte. Was ging da draußen vor? Eben vernahm er Francesca Rossis kräftiges Organ, heute eine Oktave höher als gewöhnlich. »Il direttore non c’è per nessuno per il momento.«
    Nachdenklich zupfte Blasius Botsch an den Barthaaren seines Kinns. Er war also für niemanden zu sprechen. Schon wieder nicht. Langsam übertrieb Francesca es ein wenig. Ihre Sorge um seine Gesundheit in allen Ehren, aber wen er empfing und wen nicht, entschied er immer noch selbst. Entschlossen stapfte er zur Tür und öffnete diese mit einem kräftigen Ruck.
     
    Der Mann, dessen Wortschwall im südländischen Dialekt eben noch an des Direktors Ohr gedrungen war, schwieg abrupt. Blasius bot sich ein Bild, als hätte jemand mitten in der Vorführung den Film angehalten: Francesca stand hinter ihrem Schreibtisch, einem beeindruckenden Möbel aus dem 16. Jahrhundert, ein wenig vorgeneigt, so dass der Brustansatz am Ausschnitt ihrer Seidenbluse sichtbar wurde. Die rechte Hand hielt sie ausgestreckt und zugriffbereit in Richtung des Mannes, der seinerseits wie erstarrt von einer unsichtbaren Kraft mitten in der Bewegung gestoppt schien.
     
    Blasius betrachtete die untersetze, bullige Gestalt mit den derben Gesichtszügen. Das war doch Speranza, der Bauarbeiter aus Süditalien – aus Kalabrien, wenn er sich recht entsann –, der seit ein paar Tagen im Lager zu Gange war. Was hielt er da in seiner drohend zur Decke gereckten Faust? Wenn das ein Bescheid des Denkmalamtes war – bei Umbauarbeiten in der Burg konnte man nie vorsichtig genug vorgehen –, dann würde dieser bald zur Unleserlichkeit verknittert sein, so fest hielt der Mann das Papier umklammert. Apropos Papier. Genau betrachtet hatte es keinerlei Ähnlichkeiten mit den amtlichen Schreiben, die Blasius Botsch zuhauf auf seinen Schreibtisch bekam. Weitsichtig wie er war, hatte er keine Mühe, den Gegenstand, den Speranza immer noch sichtlich aufgeregt in der Hand hielt, auch aus der Entfernung in Augenschein zu nehmen. Die Blätter wirkten seltsam vergilbt, das Material ungewohnt rau. Und was war das für eine Schrift? Um die lesen zu können, musste er doch etwas näher an den Mann herangehen. Zunächst galt es aber, die Situation zu beruhigen beziehungsweise Streithahn und -henne aus ihrer Erstarrung zu erlösen.
    »Speranza, mi dica, che cosa è successo, sagen Sie, was ist passiert?« Der Mann hatte sich offenbar wieder gefangen und setzte zu einem neuerlichen Wortschwall an. Begleitet wurde dieser von mehrfachen Versuchen Francescas, den Bauarbeiter zu unterbrechen und auf Deutsch Blasius davon in Kenntnis zu setzen, dass der Mann – der Terrone, so nannte sie ihn in Verwendung jenes abfälligen Ausdrucks, den die Nord- für die Süditaliener übrig haben – nur des Direktors kostbare Zeit stehlen wolle.
    Mit der erhobenen Linken und einem leichten Kopfschütteln gebot Botsch Francesca Einhalt, während er die Rechte beruhigend auf Speranzas Schulter legte und ihn in Richtung seines Büros schob. Drinnen nahm er dem Mann sachte, aber bestimmt die Seiten aus der Hand. Dieser hatte sie, wie aus seinem Bericht hervorging, kurz zuvor entdeckt, als bei Stemmarbeiten für den Einbau eines neuen Gefriergeräts eine Mauer nachgegeben hatte. Die Blätter hatten in dem Hohlraum dahinter gelegen. Zunächst wollte Speranza sie zusammen mit dem Bauschutt entsorgen, doch irgendetwas machte ihn stutzig. Schließlich hatte er sich dazu entschieden, den Fund dem Direktor persönlich zu übergeben, und da war er nun.
     
    Blasius Botsch hatte aufmerksam zugehört, mehrmals genickt und sich am Kinnbart gezupft. Jetzt breitete er die Blätter auf seinem Schreibtisch aus, legte eines neben das andere und strich ein jedes sorgsam mit dem Ärmel seines Jacketts aus grob gewirktem Leinen glatt. Durch die dünn umrandeten Gläser seiner Brille, die nun wieder an ihrem Platz auf seinem breiten Nasenrücken saß, studierte er aufmerksam das vor ihm Liegende. Speranza schien die Feierlichkeit des Augenblicks erkannt zu haben und übte sich in Schweigen, nur hin und wieder unterbrochen von einem scharfen Ausatmen, mit dem er seiner Anspannung Luft machte.
    Jetzt blickte Blasius von seiner Lektüre auf
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