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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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davon in einen Topf schüttete, nur um Nudeln zu kochen – wie ging das? Millionen und Millionen von Kochtöpfen, Tag um Tag! Wie konnte man genug Salz abbauen für uns alle?
    Das verstehe ich ehrlich gesagt heute noch nicht, sagte Jonas.
    Und was war dein größtes Rätsel? In der Kindheit?
    Da muss ich nachdenken.
    Schnell!
    Wieso schnell?
    Weil so etwas spontan beantwortet werden muss!
    Ob die anderen leben, sagte er. Das war es.
    Ob die anderen leben?
    Ich fragte mich, ob die anderen Menschen wirklich lebten, oder ob sie nur für mich gemacht waren. Ob sie wirklich waren oder nur Hüllen, die umhergingen.
    Solipsist! Ich erzähle Kindheitserinnerungen von Salz und Kochtöpfen, und du konterst mit existenziellem Horror! Angeber!
    Na ja, du hast gefragt.
    Aber wieso dachtest du das?
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass bei all dem Unglück, das diese Welt prägt, reale Menschen real leiden mussten. Das heißt, ich konnte es mir durchaus vorstellen, doch glauben konnte ich es nicht.
    Wie kamst du auf diesen Gedanken? Oder war er immer schon da?
    Der Nachbar, sagte er.
    Ja? Der Nachbar? Der hats dir gesagt?
    Ich konnte nicht glauben, dass die anderen fühlen. Dass der Nachbar, der damals von der Kehrmaschine zerquetscht worden war, das auch wahrhaftig erlebt hatte. Seine Schmerzen ergaben für mich keinen Sinn. Warum lag er da vor Angst zitternd unter der Maschine, ausweglose letzte Sekunden erleidend? Für wen? Diese Angst war ja nichts als Blödsinn! Wozu war sie gut? Wem nützte sie? Er konnte nicht wirklich Angst haben, er durfte nicht wirklich Angst haben, denn sonst war diese Welt ein Schlachthaus. Schließlich kam ich auf die Lösung: Es geschah nur für mich! Vielleicht, damit ich mich vor Kehrmaschinen hütete oder damit ich ihn überhaupt sah, den Tod. Doch der Nachbar litt nicht wirklich. Er erlebte es nicht wirklich, weil es den Tod für ihn gar nicht gab.
    Hast du diese Idee mittlerweile verworfen? fragte sie.
    Hm, machte er.
    Hm, machte Marie und ließ sich zurücksinken.
     
    Denkst du manchmal an Helen? fragte sie.
    Jeden Tag.
    Jeden Tag?
    Aber du, du bist es, sagte er.
    Ich bin es?
    Du bist es, ja.
    Und du bist es. Du bist es auch.
     
    Eine Urlauberfähre fuhr einige Hundert Meter entfernt an der Insel vorbei. Sie machten einen Schwarm Delfine aus, die springend neben dem Schiff herzogen. Ein Krebs kroch an Land und grub sich im Sand ein. Zwei Möwen landeten schnarrend unweit der Anlegestelle. Die Eidechse kam wieder zum Vorschein und schrie. Als die Sonne hinter einer Wolke verschwand, ließ die Hitze kurz nach. Schlagartig verstummten die Geräusche ringsum, nur noch das Anbranden der Wellen drang an Jonas’ Ohr.
    So etwas hätte ich auch gern von mir, sagte Marie, die mit dem Daumenkino spielte.
    Dann fangen wir sofort an, sagte er. Heute ist der Erste.
    Er holte ihre Kamera aus der Badetasche. Marie setzte sich in Position.
    Nicht so, sagte er. Du musst dich selbst fotografieren.
    Du hast recht, sagte sie und nahm ihm die Kamera ab.
     
    Sie schmeckte salzig. Auch zwischen den Beinen, wo er sie lange küsste. Es war einer jener Liebesakte, bei denen er nichts dachte, in einen vegetativen Zustand zurückkehrte, ohne das Gefühl eines tieferen Sinns ihrer Nähe zu verlieren, das er in ihr, auf ihr empfand, ihre Augen vor seinen, ihre Zunge in seinem Mund, ihre Arme auf seinem Rücken, ihre Stimme in ihm.

18
    Und dann schliefen sie ein.
     
    Und dann wachten sie auf.
     
    Und schliefen wieder.

19
    Er fühlte ihre Hand über seinen Rücken streichen. Er wollte reagieren, doch er sank zurück in traumdichten Schlaf, durchtanzt von Farben und Geräuschen und Bewegungen, die die Insel ihm schickte. Als er wieder auftauchte, war es Nachmittag. Marie schlief. Die Sonne war gewandert, Maries Beine lagen nicht mehr im Schatten, er deckte sie zu.
    Ringsum erklang kein Laut. Alles an Jonas war verschwitzt, Bauch, Rücken, Hals, vor allem die Haare. Halb wach, halb noch im Schlaf holte er sich etwas zu trinken. Neben der Kühltasche lag ein wuchtiger Stein, in den eine Inschrift geritzt war.
     
    I ONA M I N AETERN I S A M A V ERO
     
    Der spitze Stein, mit dem sie den Satz geschrieben hatte, steckte in einer kleinen Nische. Wie lange hatte sie wohl dafür gebraucht?
    Es war heiß. Und still. Er legte sich wieder zu ihr. Ehe er die Augen schloss, grub er das Gesicht in ihr Haar.

20
    Was ist denn hier los? rief Marie.
    Er öffnete die Augen. Marie stand nahe am Ufer.
    Was denn?
    Schau mal aufs Wasser!
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