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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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Junge steckte sie ein, sprang auf und war blitzartig hinter einer Mauer verschwunden.
     
    Je näher sie ans Meer kamen, desto schmutziger wurden die Straßen. Müll schwamm in Pfützen, dunkle Schlieren überzogen die Randsteine. Vor einem Hotel diskutierten zwei Männer. Marie schob sich die Sonnenbrille in die Haare und fragte, was hier los gewesen sei.
    Wasser, sagte der mit dem Schnauzbart. Gestern Nacht. Hier stand alles unter Wasser. Ihm – er zeigte auf den anderen, einen ausgemergelten Mann mit hässlichen Flechten am Hals – mussten wir die Garage auspumpen.
    Woher kam das Wasser?
    Vom Meer!
    Jonas drehte sich um. Der Ort, an dem die Wellen schaumig ausrollten und sich das Wasser wieder zurückzog, war an die zweihundert Meter entfernt.
    Dass ein Fluss hin und wieder über sein Ufer tritt, leuchtet mir ein, sagte Marie. Aber wie kann das hier passieren?
    Sie haben eine Woche Aufenthalt bei mir frei, wenn Sie es mir erklären! Wir können nur hoffen, dass es sich nicht wiederholt. Das Wasser ruiniert nicht nur Straßen und Häuser und Autos, sondern auch die Kanäle. Und Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie es in meinem Keller aussieht!
    Am Strand stapelten sich kaputte Liegestühle und Sonnenschirme, die das Wasser weggespült hatte. DerSand war dunkelbraun, fast schwarz und hart wie Beton. Ohne die Schuhe auszuziehen, schlenderten sie am Wasser entlang. Ein Telefon läutete. Wegen des unvertrauten Klangs begriff Jonas zu spät, dass es seines war, und musste Anne zurückrufen.
    Wir wandern hier gerade durch eine ziemlich schaurige Gegend, sagte er. Gibt es bei dir was Neues?
    Nein, aber bei dir. Du hast einen neuen Chef!
    Werner? Wenn du eigens anrufst, ist es Werner!
    Er lachte, aber sein Lachen erstarb wieder, noch ehe sie geantwortet hatte. Die Schuhspitze in den Sand bohrend, lauschte er.
    Nicht Werner. Der Alte, ich habe mir den Namen nicht gemerkt.
    Sondheimer? Nun lachte er frei heraus. Ist das ein Witz?
    So heißt er, ja. Du sollst ihn anrufen.
    Und sonst?
    Sonst ist sonst, sagte Anne. Bis nächste Woche.
    Er rief Tom und Chris an und fragte, ob sie den Falken schon gesehen hätten. Sie erzählten ihm von neuen Sensationen, und von hinten rief Lea mit Kinderstimme in den Hörer: Es geht uns allen wunderbar, Papi, du kannst unbesorgt weiter Urlaub machen!
    Halbzeit, sagte Jonas. Noch siebenmal schlafen, dann sehen wir uns!
    Ist das viel? fragte Tom.

10
    Die Orte, durch die sie fuhren, wurden ärmlicher und stiller. Statt großer Urlauberautos parkten am Straßenrand rostige Kleinwagen, in deren Schatten struppige Katzen schliefen, an denen man die Rippen zählen konnte. Alte Männer mit furchigen Gesichtern schleppten schwerfällig Kartoffelsäcke oder Benzinkanister. Kein Ort hatte ein Hotel, keiner mehr als zwei Gaststätten, keiner einen Strand.
    Aus dem Nichts, auf schnurgerader Landstraße brach wieder das kurze Gefühl von Entfremdung über ihn herein, das dem Weltverlust voranging. Im Moment darauf schwebte er in haltlosem Nichts.
    Rund um ihn war alles schwarz. Wo seine Hände, seine Arme sein sollten: Schwärze. Wo seine Beine sein sollten: Leere. Grenzenlose, unvergängliche Stille. Was in ihm war, das Abgeschlossene, das am Ende des Prozesses Angelangte, war zu unbedeutend, um ihm helfen zu können. Weit entfernt sah er einen blau schimmernden Punkt. Sonst sah er nichts.
    Einen Atemzug später saß er wieder im Auto.
    Ist etwas mit mir? schrie er. Ist etwas mit mir?
    Du siehst irgendwie anders aus.
    Sie fuhr rechts ran. Er stieß die Tür auf und erbrach sich.
    Wir machen besser eine Pause, sagte sie.
    Im nächsten Ort führte sie ihn zu einer Steinmauer,von der man ungehinderten Ausblick aufs Meer hatte, das weit und glänzend vor ihnen lag. Nach ein paar Minuten war sie zurück. Sie hielt ihm eine Schüssel vor die Nase.
    Suppe. Für den Kreislauf.
    Obwohl die dunkle Brühe kochend heiß war und zudem bitter schmeckte, trank er sie schluckweise aus der Schüssel. Bald konnte er den Kopf wieder zur Seite drehen.
    Was war vorhin eigentlich los? fragte Marie.
    Weiß nicht. Ein dummer Zufall. Oder war ich kurz weg?
    Was meinst du mit weg? fragte sie. Ohnmächtig?
    Eher so etwas wie physisch nicht anwesend.
    Während der Fahrt, meinst du? Wäre mir nicht aufgefallen.
    Also doch nur ein Zufall.
    Ja, es ist Zufall, sagte sie. Zum Arzt solltest du dennoch gehen, wenn wir zu Hause sind, ich mache mir nämlich Sorgen um dich. Meinen kann ich empfehlen. Was immer du hast, dir kann
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