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Glut und Asche

Glut und Asche

Titel: Glut und Asche
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Kapitel 1
     
    D ie Ratte war so groß wie eine noch nicht ganz ausgewac h sene Katze und sah selbst jetzt noch wild und gefährlich genug aus, um jedem klarzumachen, dass sie zu Lebzeiten kein so l ches Tier hatte fürchten müssen und wahrscheinlich auch ke i nen Hund, der deutlich kleiner als ein Bullenbeißer oder eine Deutsche Dogge gewesen wäre. Sogar jetzt, wo sie sich an e i nem Stock über einem Feuer drehte, schienen ihre winzigen Knopfaugen noch vor Wut zu funkeln und ihre in der Hitze verkrümmten Krallen nach etwas zu greifen, das sie packen und zerfetzen konnte. Sie bot einen nahezu Ehrfurcht gebietenden Anblick.
    Vielleicht war ihr Anblick aber auch einfach nur widerlich.
    Der saure Speichel, der sich immer schneller unter Andrejs Zunge sammelte, war jedenfalls nicht das sprichwörtliche Wasser, das ihm beim Anblick dieses Festmahls im Munde z u sammengelaufen wäre - obwohl er hungrig war.
    Aber nicht nach dieser Art von Nahrung.
    Andrej schluckte die bittere Galle herunter - obwohl ihm sein Verstand sagte, dass es dumm war, denn er verspürte bereits jetzt ein leises Gefühl von Übelkeit und schlang die ebenso u n gewohnte wie für das Wetter unpassende dünne Pelerine enger um die Schultern. Er fragte sich, was seinem Magen eigentlich mehr zusetzte: der Anblick der toten Ratte, deren Körperfett in zähen, geschmolzenen Fäden zwischen ihrem verkohlten Fell hervorquoll und in den Flammen des erbärmlichen Feuers verzischte, der Gestank ebenjenes Feuers, von dem er gar nicht wissen wollte, womit man es entzündet hatte und fütterte, oder die Vorstellung, dass dieser jämmerliche tote Nager gleich g e gessen werden würde und für das knappe Dutzend ausgeme r gelter Kinder, das sich um das winzige Feuer versammelt hatte und ihn mit leuchtenden Augen anstarrte, tatsächlich so etwas wie ein Festmahl darstellte. Andrej musste seine besonderen Sinne nicht zu Hilfe nehmen, um zu erkennen, wie hungrig diese vor Schmutz starrenden Kinder waren. Vermutlich war die Ratte das Erste, was sie seit Tagen zu essen bekamen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Mahl sie umbringen würde, war nicht so gering, wie irgendeine dieser bedauernswerten G e stalten glauben mochte, doch Andrej war sicher, dass es ihnen herzlich egal war Letzten Endes spielte es wahrscheinlich auch keine Rolle, dachte er bitter, ob das Fleisch dieser toten Ratte sie vergiftete, die Pest sie dahinraffte oder sie verhungerten.
    Eine vage Trauer überkam ihn, während sein Blick über die Gesichter der ausgemergelten Kinder tastete (sie waren allesamt so schmutzig, abgerissen und zerlumpt, dass er nicht sagen konnte, wer von ihnen ein Junge und wer ein Mädchen war), und ihm klar wurde, dass kaum eines dieser Kinder das nächste Frühjahr erleben würde.
    Wenn verdorbenes Essen, Hunger oder irgendeine Krankheit sie nicht umbrachten, dann würden sie erfrieren, denn der b e vorstehende Winter versprach bitterkalt zu werden. Die Stadt wu r de zwar nicht gerade von einer Hungersnot heimgesucht, doch die schlechte Ernte des letzten Sommers und die zurüc k liegenden Kriegsjahre hatten die Herzen ihrer Bewohner im gleichen Maße härter werden lassen, wie das Knurren ihrer Mägen zunahm und sich ihre Vorratskammern leerten. Ni e mand verschenkte noch etwas in dieser Stadt - in diesem ganzen Land, wenn er es richtig bedachte -, und es gab erst recht ni e manden, der einem bettelnden Kind etwas geschenkt hätte, von dem er genau wusste, dass es ihn nur deshalb anbettelte, weil es noch keine Gelegenheit gefunden hatte, ihm etwas zu stehlen oder ihn abzulenken, damit einer seiner Freunde ihn bestehlen kon n te.
    Andrej maßte sich nicht an, darüber zu urteilen. Auch er ha t te schon gestohlen, weil er hungrig gewesen war. Auch in diese Stadt war er gekommen, um genau das zu tun.
    Er allerdings würde kein Brot und Fleisch stehlen, und die, die er zu bestehlen gedachte, hatten es verdient -sowohl nach den Gesetzen der Menschen als auch nach denen des Schic k sals. Vielleicht auch nur nach seinen eigenen. Welchen Unte r schied machte das schon?
    Die Ratte schien gar zu sein. Oder den Teilnehmern dieses Galadinners knurrten nur so sehr die Mägen, dass sie einfach nicht mehr länger warten konnten, denn einer der Jungen nahm den verkohlten Stock vom Feuer und zog ein Messer unter se i nem zerlumpten Hemd hervor, das einmal eine gut dreißig Ze n timeter lange Klinge gehabt haben musste, jetzt aber zur Hälfte a b gebrochen war. Damit schob er die Ratte
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