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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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schnell vor dir ablaufen, wodurch der Eindruck entsteht, du würdest einen Film sehen. So etwas hatte ich in meiner Kindheit. Ein Block Papier, wie ein Abreißkalender mit einer Figur, die auf jedem Einzelbild eine geringfügig andere Bewegung macht.
    So etwas ist das hier, sagte er. Man nimmt den Stapel und lässt die Bilder vor sich ablaufen. In diesem Fall übernehme das lieber ich, weil du keine Übung mit so vielen Bildern hast, und wenn du es nicht richtig machst, ist der Effekt dahin.
    Kann losgehen!
    Durch die Menge der Fotos, mehr als hundertdreißig, war es wirklich schwierig. In gleichmäßigem Rhythmus ließ er sie vor Marie ablaufen. Ihre Augen wurden weit, ihre Miene starr. Noch bevor er fertig war, schrie sie überrascht auf. Am Ende kam das oberste Bild, das neueste.
    Was ist das? rief sie.
    Einfach nur ich. Ich in der Zeit.
    In welcher Zeit?
    In mehr als zehn Jahren. Mitte zwanzig bis jetzt.
    Ich würde alles Geld hergeben, um so etwas von mir zu haben.

9
    Sie blieben mehrere Tage. Jonas mochte das Licht, das am Nachmittag auf dem Ort lag und die schlichten alten Häuser in weichen Bronzefarben zeichnete. Morgens war der Himmel von hartem Blau, um sich im Lauf des Tages zu verwandeln und geschmeidiger zu werden. Jonas und Marie dösten auf Liegestühlen, lasen, redeten, rieben sich mit Sonnenmilch ein. Er hatte nicht das Gefühl, etwas zu vermissen. Bis auf die Jungen, die ihm am Abend besonders fehlten.
    Am Morgen des fünften Tages fuhren sie weiter. Sie verloren sich in den berühmten Märchenwäldern rund um ein Schloss, das sie am Abend besichtigten und dessen Besitzer sie einlud, über Nacht zu bleiben, was sie gern annahmen. Die Nacht darauf schliefen sie in einem Wohnwagen, der auf einem Campingplatz dauerhaft abgestellt war und tageweise vermietet wurde.
    Er erwachte von einem Stoß in die Rippen. Es war dunkel. Benommen hielt er die Frau neben sich für Helen, erschrak, verstand erst nach einigen Augenblicken, wo er war und mit wem. Was ist los, fragte er. Keine Antwort. Marie schien zu winken. Er schaute genauer und nahm wahr, dass sie, auf dem Rücken liegend, auf ihr Gesicht zeigte. Er rückte näher. Auf ihrer Nase saß eine Zikade. Behutsam führte er einen Finger zu ihr, da hüpfte das Insekt davon. Marie lächelte, schloss die Augen, drehte sich auf die Seite und drückte ihr Hinterteil gegen seinenBauch. Das Gesicht an ihrem feuchten Rücken, eine ihrer schweren Brüste in der Hand, schlief er wieder ein.
     
    Tags darauf spazierten sie durch einen Ort, in dem Marie als Kind mit ihrer Familie Urlaub gemacht hatte. An allen Ecken erinnerte sie sich an Erlebtes. Sie erkannte den Minigolfplatz wieder, die Einkaufsstraße, die große Eisdiele, die Spielhalle.
    Aus einer Kirche ertönte Gesang. Lass uns hineingehen, sagte Marie.
    Sie zog ihn am Ellbogen zum Kirchentor. Im Vorbeigehen las er auf einem handgemalten Schild: Messe nach kongolesischem Ritus.
    In der Kirche war es kühl. Ebenso angenehm fand Jonas den neutralen Geruch. Es roch nicht nach Weihrauch, es roch nicht einmal so bedrückend nach kaltem Stein wie in anderen Kirchen, es roch nach gar nichts.
    Neben ihm kniete eine alte Frau. Die Lippen bewegte sie nicht. Auch du hast einen Sohn gehabt, hilf mir, ich bin ganz verzagt, denn er trinkt und weiß nicht, was er mit dem Leben beginnen soll. Zeig ihm den Weg, ich bitte dich
    Jonas zwinkerte, schüttelte heftig den Kopf.
    Alles in Ordnung? fragte Marie.
    Alles gut, sagte er.
    Vor sich in den Bänken sah er junge, edel und teuer gekleidete Schwarze. Fast ausnahmslos waren sie schön. Sie sangen und klatschten zur Musik einer Band. Am Altar standen fünf Priester in grünen Gewändern. Nach dem Lied predigte einer von ihnen in einer unbekannten Sprache, wohl Kongolesisch.
    Jonas schaute sich in der Kirche um. Im Seitengang hielt ein magerer Jüngling ein mächtiges Holzkreuz, nebendem er selbst klein und verloren wirkte. Heilige Mutter Gottes, nimm mich auf in Deinen Stamm, lass mich Dein werden und Dir gehören und schenke mir einen anderen Körper als diesen, der mir zugewachsen, aber mir nicht zugedacht. Ich bin kein Mann, es ist ein falscher Körper, ich habe gesündigt, oh, ich habe gesündigt, und doch bin ich eine Frau wie Du
    Statt des Gekreuzigten war eine Karte des afrikanischen Kontinents aufgenagelt und der Kongo als blutiges Herz dargestellt. Auf den Beichtstühlen standen verworrene Sinnsprüche. Der Altar war mit einer Art Weihnachtsschmuck aus dem Baumarkt
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