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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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»Kruzifix!«
    Ein Martinshorn heulte gegen die Kirchenglocken an. Sie läuteten weiter. Auch die Kuhglocken läuteten weiter. Die Kühe kümmerten sich nicht. Durstig eilte ich im Wanderschritt den asphaltierten Weg hinab nach Tal am See. Er war einspurig mit Ausweichstellen. Er war aufgesprungen vom Frost, wie Adern auf den Wangen von alten Männern.
    Ich vermied es, in Kuhfladen zu treten. Das Zeug klebt wie der Teufel, wenn es trocknet. Ich wollte zum Frühschoppen. Zur Kirche. Erst Kirche, dann Frühschoppen. Wie in der guten alten Zeit. Meiner Jugend.
    Ich schritt schneller. Ich fing an zu schwitzen in meinem Trachtenjanker. Das Martinshorn. Noch immer. Die Glocken der Kirche. Um halb neun hatten sie angefangen, warum schaltete keiner die Glocken aus? Um neun würde die Messe anfangen.
    Die Glocken hörten einfach nicht auf. Sie läuteten aufgeregt. Noch ein Martinshorn. Warum brauchten die hier so viel Tatütata? War doch kein Verkehr. Die Badegäste würden erst gegen zehn oder später zum See kommen. So früh ersäuft keiner.
    Ich joggte. Ich wollte, verdammt noch mal, wissen, was da los war. Ich hatte in Tal noch nie ein Martinshorn gehört. Noch nie Polizei gesehen. Oder Feuerwehr. Oder Notarzt.
    Auf dem kleinen Kirchenparkplatz wimmelt es von Blaulicht: Feuerwehr, Notarzt, Sanitätsauto, Polizei. Offene Autotüren. Quäkende Funkgeräte. Zwischen dem Parkplatz und dem Eingang der barocken Dorfkirche mit dem Zwiebelturm stehen Grabsteine im Weg. Nach Osten ausgerichtet.
    Als wären alle Toten Frühaufsteher.
    Die Sanitäter tragen eine Bahre durch den winzigen Friedhof. Die Formen unter dem Leintuch sehen nach einem Menschen aus. Das Leintuch überdeckt alles. Auch das Gesicht. Die Notärztin geht mit hängenden Schultern daneben her. Letztes Geleit. Sie ist noch viel zu jung. Blond. Hochgewachsen. Fielmann-Brille. Topmodisch, für zehn Euro. Sie könnte meine Tochter sein, vom Alter her. Wer ist der Tote? Die Tote? Leute stehen herum und reden aufgeregt, nicht viele, aber sehr aufgeregt. Sanitäter verarzten eine leichenblasse Frau an der Eingangsschwelle zur Kirche. Vielleicht die Messnerin? Oder die Organistin? Die Haushälterin? Sie schaut ins Leere. Sie zittert. Am ganzen Leib. Die Ärztin kommt zurück und macht eine Spritze fertig.
    Die Polizei versperrt die Kirchentüre mit einem rot-weißen Band, wie im Fernsehen. Man könnte leicht durch das Plastikband gehen und es abreißen, tut es aber nicht. So wie die Kühe auf den Weiden. Sie könnten leicht durch das lächerliche Band traben, das meistens nicht einmal elektrisch geladen ist, tun es aber nicht. Ich Kuh. Keiner darf rein.
    Ein schmächtiger Mann mit einem dünnen Gesicht, das nicht viel gesünder aussieht als das der leichenblassen Frau, die zittert, vielleicht ist es der Messner, der Organist, der Haushälter, klopft mit einem Hammer, und ich denke: Sonntagfrüh hämmert man nicht! Er nagelt ein Schild an die Kirchentür. Ich denke: Luthers Thesenanschlag. 1517. Die These von Tal lautet, mit Filzstift in Schülerhandschrift auf Pappkarton geschrieben: »Wegen Todesfall geschlossen«. 2013.
    Ich kenne keinen von den Leuten. Macht nichts.
    Ich zwänge mich vor, zu der blassen Frau mit der spitzen Nase. Sie zittert immer noch. Trotz der Spritze. Oder wegen der Spritze?
    »Wer sind Sie?«, fragt die Notärztin unwirsch. Sie packt das Spritzgerät wieder ein in ihren Notarztkoffer.
    Ich denke: Wer bin ich? Wer sollte ich sein, damit ich etwas erfahre? Ich bin einfach neugierig, schon immer gewesen. Ich will wissen, was da passiert ist. Nach meinen ersten drei unendlichen Rentnertagen brauche ich eine Dosis Adrenalin.
    »Ich bin von der Notfallseelsorge.«
    »Gibt’s das jetzt hier auch schon?«
    Ich denke: Ja, seit jetzt. Soeben erfunden. Von mir.
    Sage:
    »Ja. Aus Kempten.«
    »Dann beruhigen Sie sie mal!«
    »Mach ich. Ich kümmer mich um sie.«
    »Gut«, sagt die junge Notärztin.
    Sie verschwindet in Richtung Sanitätsauto.
    Die Frau, vielleicht um die vierzig, zittert weiter, klappert mit den Zähnen. Ich ziehe meinen Lodenjanker aus.
    »Tun S’ den um Ihre Schultern, dann friert Sie’s nicht so!«
    Ich lege ihr meine Jacke um die Schultern.
    Sie sitzt an der Eingangsschwelle zur Kirche. Gegen die dicke Holztür gelehnt.
    Die Polizei verscheucht die Neugierigen.
    Ich halte ihre Hände.
    »Die sind ja ganz kalt«, sage ich.
    Sie heult. Schluchzt.
    Wenigstens hört sie auf zu zittern.
    »Was ist denn passiert?«
    Sie schüttelt sich in
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