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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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was seine Frau damit bezweckte, wenn sie ihm die alltäglichsten Kompetenzen absprach.
    Eine SMS von Marie. Zwei kurze Sätze schrieb er zurück, mehr Zeit war nicht, weil Tom ihm auf dem Rücken hing und seinen Kehlkopf malträtierte, während Chrissich alle Mühe gab, mit seinem Laserschwert aus Plastik eine Vase vom Regal zu kippen. Eilig machte er Frühstück, putzte ihnen die Zähne, zog sie fertig an. Unter Mühen beförderte er die zappeligen Füße in die Schuhe, und er blieb auch geduldig, als Chris ihm durch die ganze Wohnung davonlief, obwohl die Tür schon offen stand und Toms Morgenschreie durch den Hausflur hallten. Jeden Tag war er völlig verschwitzt, wenn er die beiden endlich im Auto hatte.
    Beim Kinderarzt überlegte er, ob er Chris messen lassen sollte, doch ihm war nicht danach, den Tag mit einer Enttäuschung zu beginnen. Sie hatten schon alle üblichen Untersuchungen gemacht, Handwurzelröntgen, Allergietest, Zöliakietest, doch eine Ursache für sein verringertes Wachstum war nicht gefunden worden. Der Arzt sagte immer dasselbe: Eine Hormonbehandlung wäre der allerletzte Ausweg. Sie sollten sich einstweilen keine Sorgen machen, in fast allen Fällen erreichten solche Kinder später doch noch eine ansehnliche Größe.
    Der Kinderarzt stach schlecht, er nahm einen zu spitzen Winkel und drückte das Serum zu schnell unter die Haut. Die Jungen muckten trotzdem nicht. Chris dankte sogar höflich für sein Belohnungsbonbon. Als der Arzt Tom seines hinstreckte, biss der ihm in die Hand, und der Arzt schrie auf, als hätte ihn ein Kampfhund angefallen. Jonas hielt Tom zurück. Keine Minute darauf standen sie vor der Praxis. Die Flüche des Arztes waren bis auf die Straße zu hören. Jonas schimpfte, Tom bockte, Chris lachte.
    Eine Viertelstunde später als sonst lieferte er die Jungen im Kindergarten ab. Er schrieb Helen eine SMS, dass alles gut gegangen war. Was Tom dem Arzt angetan hatte, verschwieg er. Sie schrieb zurück: Danke!
    Auf dem Weg ins Büro holte er die Fotos ab, die er zur Entwicklung gebracht hatte. In einem verrauchten Laden besorgte er Zeitungen. Allem Anschein nach gehörte das winzige Geschäft einem Alten, der im Hinterzimmer seine Pfeife schmauchte und dabei wirkte, als würde er seit langer Zeit meditieren, zumindest hatte Jonas ihn noch nie sprechen gehört oder gar auf den Beinen gesehen. Er saß da und starrte nach vorne, und Jonas fragte sich, was sich in ihm zusammenbraute.
    Die Finger der Verkäuferin glänzten schwarz. Sie verdiente sich Geld hinzu, indem sie im Hinterzimmer Druckerpatronen nachfüllte. Auch ihm bot sie es wie üblich an, worauf er höflich den Kopf schüttelte und die Zeitungen hochhielt, sodass sie mit zusammengekniffenen Augen den Preis ablesen musste, ohne sie mit ihren Tintenfingern zu berühren.
    Beim Hinausgehen kam er am Automaten mit den Losen der Sofortlotterie vorbei. Der Mann fiel ihm ein und sein Versprechen, ab diesem Tag würden Jonas alle Wünsche erfüllt. Er steckte eine Münze in den Schlitz und drückte den metallenen Hebel nach unten. Ehe er das Los öffnete, schloss er die Augen und dachte: Ich wünsche mir, dass dies hier der Haupttreffer ist!
    Er riss den Umschlag auf und entfaltete das Los langsam.
    Was gewonnen? rief die Verkäuferin.
    Leider nicht! Er warf das Los in den Papiereimer. War ja klar.
    An der nächsten roten Ampel schloss er die Augen. Friede auf Erden, dachte er. Er applaudierte sich. Ende allen Hungers. Atomwaffen zerstören. Er klatschte fester. Unterdrückung der Frau beenden, Diskriminierung Andersartigerabschaffen. Bravo! rief er und klatschte. Keine Gewalt mehr, keine Aggression.
    Jemand hinter ihm hupte wütend. Er riss die Augen auf, die Ampel stand auf Grün, er lachte.
    Im Büro holte er sich Kaffee und stellte das Spielzeugblaulicht an, das neben den Fotos von Tom und Chris an seinem Monitor klebte. Es ersetzte ein Bitte-nicht-stören-Schild und wurde von den Kollegen ignoriert, was wohl auch daran lag, dass die meisten den halben Tag betrunken waren und auf solche Kleinigkeiten nicht achteten. Die Wahrscheinlichkeit einer Störung war indes gering, denn Jonas war ein Außenseiter im Büro.
    Die Geschäftsführung hatte eine Rundmail ausgeschickt, in der sie um Ideen für eine Ausschreibung zum Stadttourismus bat. Er überflog die E-Mail nur, denn erstens war man bei diesen Aufrufen nicht verpflichtet, sich etwas einfallen zu lassen, zweitens interessierte ihn das Thema nicht. Er sah nach, ob eine SMS
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