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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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wollte es nicht, er wusste nicht, was er wollte, er wusste nicht einmal, was er wollen sollte. Ohne die Kinder wäre das anders gewesen. Vielleicht.
    Marie hatte er auf recht dreiste Weise kennengelernt, im Café, als sie sich in der Uniform ihrer Fluggesellschaft an den Nebentisch gesetzt hatte. Er sah hoch, sah weg, begriff, was er da gesehen hatte, sah wieder hin,und von da an fühlte er den kaum bezähmbaren Drang, sie anzustarren. Eine Bekannte von ihr stellte kurz ihre Einkaufstaschen bei ihr ab. Zum Abschied gab ihr Marie ihre Mobilnummer. Er schrieb mit, schaute ihr keck in die Augen und sagte: Danke.
    Einige Zeit hatte er diese Beziehung auf die leichte Schulter genommen, sie als verbotenes Vergnügen angesehen, das bald ein diskretes Ende haben würde, nach dem er mit seiner Frau weiter zusammenleben würde wie zuvor, um eine kleine Erfahrung reicher. Nach einer Weile hatte er gemerkt, dass er an Marie mit größerer Zärtlichkeit dachte als an Helen. Seit einigen Monaten meinte er, dass er nicht ohne sie leben konnte, er komponierte E-Mails für sie, schickte SMS, ließ sein Handy nicht aus den Augen für den Fall, dass sie schrieb oder gar anrief, was allerdings so gut wie nie vorkam, weil sie keine Risiken eingehen wollte.
    Einmal die Woche sahen sie sich. Sie trafen sich in Hochhauscafés, Parks, Kinos und Kaufhäusern, sie spazierten durch die Straßen und berührten einander leicht, wie zufällig, sie gingen essen, und ab und zu, sehr selten, schafften sie einen Konzertbesuch. Ihr Hotel war das Ensemble, aber sie hatten es auch schon zweimal im Auto und einmal in einer Damentoilette getan, als die Zeit zu knapp gewesen war.
    Er wusste nicht, was er tun sollte, es gab keinen Ausweg. Er konnte sich nicht vorstellen, mit Marie zusammenzuleben, weil er damit an Vaters Stelle wäre für ihr Kind, während seine Söhne keinen Vater hätten, der bei ihnen lebte. Wie sollte er ihnen das erklären? Ich lebe jetzt bei einem anderen Jungen – das ging nicht, das brachte er nicht fertig, ebenso wenig, wie er es fertigbrachte, einem anderen Mann das Kind wegzunehmen.
    Aus dem Bad hörte er gedämpft Wasser in die Wanne rauschen. Er begann seine CDs zu ordnen. Es kamen ihm einige unter, die er bestimmt nie wieder anhören wollte. Er schleuderte sie mit aller Kraft aus dem Fenster und sah zu, wie sie glitzernd in der Nacht verschwanden. Die Hüllen warf er in den Müll.
    Ich liebe dich. Es wird alles gut.
    Ich liebe dich auch. Ich mache mir sorgen.
    Bitte mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.
    Helen lag mit dick shampooniertem Haar in der Wanne und löste ein Sudoku. Sie sah nur kurz auf. Auf dem Wannenrand flackerten fünf Kerzen, die aussahen wie Grablichter. Schwer hing das Aroma von Apfel und Zimt in der feuchten Luft.
    Vor dem Spiegel begann er an seinen Pickeln zu arbeiten. Helen witzelte immer, sein Gesicht erinnere sie an eine austreibende Kartoffel. Weil das maßlos übertrieben war, hatte er früher mitgelacht, doch seit er mit Marie zusammen war, nahm er die Sache ernst. Zum Schluss cremte er sich ein.
    Er nahm die Nagelschere aus dem Fach. Einmal verschnitt er sich, und sofort kam Blut. Vor Schmerz zog er pfeifend Luft ein. Er pustete auf den Schnitt, der sich rot färbte. Im Spiegel betrachtete er Helen, ihr ahnungsloses, weiches Gesicht.
    Ich liebe dich, sagte er.

3
    Am Morgen hörte Jonas, wie Helen im Flur mit den Schlüsseln klimperte, er hörte die Tür zufallen, das Schloss klacken, zweimal. Auch das dumpfe Schnaufen des Aufzugs hörte er noch. Als alles still war, wälzte er sich unter der Bettdecke hervor. Die Jungen kamen gelaufen und schrien nach Kakao, Süßigkeiten, Spielen, Fernsehen, Lieblings-T-Shirts. Beim Anziehen fiel er beinahe um, so heftig kamen sie ihm in die Quere.
    Helen hatte die kleinen Rucksäcke für die Kinder vorbereitet und die Kleidung für den Tag herausgelegt, weil Jonas in diesem Punkt nach ihrer Ansicht unzuverlässig war und die beiden entweder zu dünn oder zu warm anzog. Wie üblich ließ er trotzig alles liegen und nahm andere Kleidung aus dem Schrank. Natürlich wusste er, wie dick oder leicht er sie anziehen musste, gerade im Sommer war das keine unlösbare Aufgabe. Wenn man draußen bis zu den Knöcheln in schmutzigem Schnee versank und es serienweise Glatteisunfälle gab, wusste er es freilich auch, von Anfang an hatte er alles gewusst, er hatte Windeln gewechselt und Fläschchen gewärmt, Fieber gemessen und Blähungen wegmassiert, und er begriff nicht,
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