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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche
Autoren: Thomas Glavinic
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    Sie verstehen mich ganz falsch, sagte der Mann. Es geht nicht darum, was Sie wollen, sondern darum, was Sie sich wünschen. Mein Koffer ist Ihnen im Grunde doch egal. Was wünschen Sie sich, Jonas?
    Ohne ihm die Hand zu geben, nur mit einem Kopfnicken ging der Mann davon.
    Jonas sah ihm nach. Obwohl es höchste Zeit für die Spielzeuglokomotive war, konnte er sich nicht entschließen zu gehen. Er war verwirrt. Er ärgerte sich, dass er das Auto wegen der Geburtstagsfeier am Morgen zu Hause hatte stehen lassen, so hätte er sich nun das Taxi erspart.
    Ein altes Ehepaar ging vorbei. Ein Junge fuhr auf einem Skateboard und schrie dabei ohne ersichtlichen Grund sinnleere Parolen. Eine schöne Frau setzte sich auf die Bank gegenüber. Sie trug eine kurze Hose und ein enges blaues T-Shirt, die Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre Blicke trafen sich. Sie betrachtete Jonas prüfend, schaute weg und nicht wieder hin.
    Eine Ausländerin, in weite Gewänder gehüllt, kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Hinter ihr röhrten vier Halbstarke von der Wurstbude. Den Kopf gesenkt, versuchte sie die Verfolger abzuschütteln. Die schöne Frau packte hastig ihre Tasche und lief quer über die Wiese davon. Jonas suchte in den Gesichtern der übrigen Passanten nach Zeichen, dass sie einzugreifen bereit waren, doch alle schauten in eine andere Richtung. Als die Ausländerin an seiner Bank vorbeikam, wollte er aufstehen. Er blieb sitzen.
    Bald waren sie nicht mehr zu sehen, weder die Ausländerin noch die Rohlinge. Schamvoll saß er da. Während er sich auf seinen Schluckauf konzentrierte, läutete zweimal sein Handy, aber da es nicht Maries Klingelton war, griff er nicht in die Tasche.
    Hinter sich hörte er Lärm. Ein kleiner Junge stand bis zu den Knien im Wasser. In der Hand hielt er ein rotes Spielzeugboot. Schau, mein Boot! rief er. Es kann durch den Brunnen schwimmen!
    Jonas nickte, ohne das Boot anzusehen. Er krümmte die Finger, als führe er ein Glas zum Mund. Den Kopf nach hinten gelegt, schluckte er neun Mal. Er wartete. Es kam nichts mehr. Der Schluckauf war weg.

2
    Tom und Chris hatten Wandertag gehabt und schliefen bereits. Jonas stellte die Lokomotive auf die Hutablage, wo die Jungen sie am nächsten Tag nicht entdecken würden, denn er wollte dabei sein, wenn sie sie sahen.
    Auf einer Skala von eins bis zehn, wie viel Ärger? fragte Helen aus der Küche.
    Sechs, sagte er. Zu viele Leute in Urlaub, zu viele krankgeschrieben. Kann sein, dass ich morgen spät nach Hause komme. Was rede ich da, ich meine: Ich komme morgen sicher spät.
    Miauend strich Astor, ihre schrullige Katze, um sein Hosenbein. Er kraulte das Tier, bis Helen ihm eine Ansichtskarte durch das Fenster reichte, das Küche und Wohnzimmer verband. Sie war von ihren Eltern. Er überflog das Geschriebene und legte sie zur Seite.
    Hast du mit Werner gesprochen? fragte Helen.
    Gibt nichts Neues. Er fragt sie nach ihrem Urlaub.
    Werners Schwester gehörte eine Boutique, für die sie seit Langem eine Geschäftsführerin, vielleicht sogar Teilhaberin suchte. Helen war auf einer Modeschule gewesen. In dem Büro, in dem sie seit einigen Jahren arbeitete, wurde sie schlecht behandelt und schlecht bezahlt, und nun schwebte ihr vor, die Boutique von Werners Schwester auf ethisch einwandfreie Produkte zu spezialisieren. Sie war bereits mit Fair-Trade-Händlern auf der ganzen Welt in E-Mail-Kontakt.
    Auf der Couch schlug Jonas die Wirtschaftszeitung auf, die Helen abonniert hatte und in der unter anderem der Erfolg von Managerinnen vom astrologischen Standpunkt aus analysiert wurde. Er hätte gern mit jemandem über den Mann im Park geredet. Über die Zeitung hinweg starrte er auf ein Astrid-Lindgren-Poster an der Wand. Marie. Was sie wohl gerade machte?
    Er blätterte unaufmerksam in der Zeitung und begann, ohne ernsthaftes Interesse an sich herumzuspielen. In der warmen Jahreszeit summierten sich die vielen kurzen Blicke in hübsche Gesichter, auf nackte braune Schenkel, auf Bäuche und in Dekolletés, die sich ihm im Laufe des Tages präsentiert hatten, meist zu einem Wunsch nach Entladung und Befreiung, sie kulminierten in der Lust auf einen friedlichen Orgasmus. An diesem Abend fühlte er gar nichts. Er zog an seinem Schwanz und wartete darauf, dass sich Helen wie jeden Abend mit einem Buch zu ihren Duftkerzen ins Badezimmer zurückzog.
    Er musste an die Halbstarken und die Ausländerin denken. Aber was hätte er denn machen sollen?
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