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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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genausowenig.«
    »Komm schon, Billie, ich habe doch so viele Erinnerungen.«
    »Reichen sie für ein ganzes Leben?« fragte Billie. »Sein Leben?«
    Sie hatte ihn getötet. Das Bild erstarrte, der Applaus verstummte, nichts rührte sich mehr in seinem Gesicht. Billie hörte, wie die Festplatte surrte, um Rat ersuchte, sich anstrengte, eine Modellantwort zu finden. Plötzlich fand sie es entsetzlich, allein in einem Schlafzimmer zu hocken, auf ein stummes, regloses Bild zu glotzen und dem Regen zu lauschen.
    »Könntest du bitte Billie einblenden?« bat sie.
    Das Bild wurde wieder lebendig, und Billie trat auf; sie trug eine schwarze, mit silbernen Nieten verzierte Hose, eine schwarze Jacke und ein Brillantarmband. So, wie Billie aussehen würde, wenn sie über Geld und Einfluß verfügte und tun und lassen könnte, was sie wollte. Oder nicht?
    »Stimmt das?« fragte Eamon diese andere Billie.
    Die Billie im Schlafzimmer nickte: Ja. Und Billie auf dem Bildschirm meinte lakonisch: »Du mußt das so sehen: Es bedeutet, daß du der richtige Eamon bist. Es war nie anders.« Flüchtig betrachtete sie das winzige Schlafzimmer, das ungemachte Bett, ihr Original in dem verdreckten Jumpsuit. Was mochte sie denken? Ich verrichte hier deinen Job. Wer von uns beiden führt das bessere Leben? Oder dachte sie vielleicht gar nichts?
    Die Billie auf dem Bett sagte: »Ich möchte, daß ihr zwei jetzt spazierengeht, egal, wohin. Mich nehmt ihr nicht mit; ich möchte nicht dabeisein. Haut jetzt ab, meinetwegen nach Irland.«
    »Japan«, korrigierte die andere Billie. Billie war beinahe gerührt, bis ihr einfiel, daß der Tempel und der Park pannensicher im Programm verankert waren.
    Eine einzige, vollkommen geformte Träne perlte Eamons Wange hinunter, eine glänzende Spur wie von einer Schnecke hinterlassend. In ihrer glatten Tiefe konnte Billie ihr auf den Kopf gestelltes Ebenbild erkennen. Eine Brechung des Lichts.
    »Komm mit, Schatz«, sagte die virtuelle Billie und tätschelte aufmunternd Eamons Schulter. Aus irgendeinem Grund wollte Billie nicht mitansehen, wie sie die Garderobe verließen.
    Billie ging und brühte sich eine Tasse Tee auf. Sie würde sich einsam fühlen, wenn keine freundliche Stimme mehr sagte, sie hätte sich eine Stärkung verdient. Sie dachte an ihre Mutter, an das Haus in South End, an die Schule, Joeys Vater. Ihre Erinnerungen. Reichten sie für ein ganzes Leben?
    Als sie ins Schlafzimmer zurückkam, zeigte der Bildschirm Eamons leere Garderobe. Auf dem Schminktisch befanden sich Gesichtspuder und sanft getönte Lippenstifte. Desperate Dan Butch Cosmetics. An einem Haken hing ein verschwitzter weißer Anzug. Das Gemurmel des Publikums war verklungen; man hörte nichts, außer daß draußen jemand den Boden fegte. Am unteren Türspalt, durch den ein Lichtschimmer eindrang, huschte die Silhouette eines Besens vorbei.
    Billie schob die Transceiverkarte wieder ins Gerät.
    »Schalte dich in das Transceivernetz ein«, befahl Billie dem Computer. »Sag allen Bescheid, daß Eamon bloß eine digitale Konstruktion ist. Verbreite, daß es keinen Eamon gibt. Verrate aber nicht, von wem du das weißt. Versuche zu verschleiern, wo die Nachricht in das System eingeschleust wurde. Gib deine Informationsquelle nicht preis.«
    PROCESSING INSTRUCTIONS erschien auf dem Schirm, zusammen mit einer kleinen, tickenden Uhr.
    »Stelle fest, wo sich Eamon und Billie jetzt in dem System aufhalten, und speichere die Information als separate Datei ab. Sie soll aktiv bleiben, aber mit einer Sperre gesichert sein. Diese Datei öffnest du unter gar keinen Umständen, selbst dann nicht, wenn ich es dir befehle.« Ob die Maschine das begriff? »Friere sie ein.«
    Der Himmel ist ein Ort, an dem nie etwas passiert.
    »Das war’s dann, du kannst dich abschalten«, sagte sie. Sie zog die CD aus dem Abspielgerät, und als sie Eamons Bild darauf sah, fing sie an zu weinen. Salziges Wasser sammelte sich in ihrem Mund.
    Ob sie vor Wut, aus Mitleid oder vor Freude heulte – es spielte keine Rolle, es bewies ihr lediglich, daß sie noch am Leben war. Und sie wußte, daß Eamon, ihr Eamon, immer bei ihr sein würde, in ihren Gedanken.
    Worte flimmerten über den Bildschirm. Wie wir alle, so wollte auch die Maschine ihre Aktionen absegnen lassen.
    BITTE SAG AUF WIEDERSEHEN, forderte der Computer.
    Doch das konnte Billie nicht.
     
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    Originaltitel: ›FAN‹ • Copyright © 1994 by Geoff Ryman • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, März
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