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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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1994 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlück, Literarische Agentur, Garbsen • Copyright © 2000 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Übersetzt von Ingrid Herrmann • Illustriert von Ingo Wiegand
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Norman Spinrad • USA
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DAS JAHR DER MAUS
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    »Leg dich nicht mit der Maus an.«
    »Leg dich nicht mit der Maus an? Wir bezahlen Ihnen einen Business- class-Flug nach Kalifornien und bringen Sie in einem Luxushotel in Anaheim unter, und wenn wir von Ihnen einen Bericht über die Lage wünschen, geben Sie dekadente taoistische Rätselsprüche von sich?«
    Xian Bai widerstand dem Impuls, am engen Kragen seines Frackhemds zu zerren. Nach zwei Wochen in Südkalifornien, wo es sich selbst hochrangige Manager nicht nehmen ließen, in legerer Freizeitkleidung zu ihren Meetings zu erscheinen, fühlte er sich höchst unwohl darin.
    »Das ist kein taoistischer Sinnspruch«, erklärte er, »sondern eine verbreitete Maxime in hohen amerikanischen Unternehmenskreisen, wo man es für höchst unklug hält, den Zorn der Disney Corporation zu erregen.«
    Wenn der stellvertretende Minister für kulturelle Beziehungen mit Übersee eine Langnase gewesen wäre, hätte sich seine blasse, weiße Haut zweifellos vor Zorn puterrot verfärbt. Doch obwohl er gehandikapt war, weil ihm diese Fähigkeit der Weißen fehlte, gelang es ihm durchaus, sein Mißvergnügen deutlich zum Ausdruck zu bringen, indem er mit der Hand so heftig auf den Tisch schlug, daß das Teeservice klapperte.
    »Und was ist die Volksrepublik China? Eine Bananenrepublik, die der United Fruit Corporation gehört?« rief der stellvertretende Minister. »Wir sind eineinviertel Milliarden Menschen! Wir sind der größte und am schnellsten wachsende Markt der Welt! Wir haben die größte Armee der Welt! Wir haben Atomwaffen! Wie kann die Maus es wagen, sich auf so eine dreiste und empörende Weise mit uns anzulegen!«
    Er beruhigte sich mit einem Schluck Tee und musterte Xian Bai mit einer kälteren Art von Empörung. »Haben Sie das nachdrücklich genug klargemacht?«
    »O ja, das habe ich!« antwortete Xian Bai, dem gar nichts anderes übrig blieb, mit fester Stimme.
    Die reine Wahrheit war das jedoch nicht. Schon die zwei Wochen in Anaheim, in denen er versucht hatte, einen Termin bei einem für die Überseemärkte zuständigen Direktor zu ergattern, und die Ergebnisse des Gesprächs mit diesem Mann hatten ihn überzeugt, daß aller Nachdruck der Welt dafür nicht ausreichte.
    »Wachen Sie auf, Xian«, hatte ihm der Mann geraten. »Die Vorstellung, die gelbe Gefahr würde die Strände bei Orlando stürmen, ist mit Ronald Reagan gestorben. Was wollen Sie denn machen, eine Atombombe auf ›Pirates of the Caribbean‹ in Disneyland werfen?«
    »Aber China ist der größte Absatzmarkt der Welt …«
    »… zu dem ihr uns seit dem Streß um diesen Dalai-Lama-Streifen, der Ovitz den Job und uns einen Haufen Kohle für seinen goldenen Fallschirm gekostet hat, den Zugang verwehrt! Das war wirklich keine gute Idee.«
    Der Direktor hob den Blick zum Himmel.
    »Michael war stocksauer.«
    »Und dieser Film ist nun eure Rache.«
    Der Disney-Direktor grinste wie der König der Löwen.
    »Was unterm Strich dabei rausspringt«, sagte er, »ist immer die beste Rache.«
    Die Lakaien der Maus hatten sich nicht lange bitten lassen und Xian Bai erlaubt, einer Preview-Vorführung von Der lange Marsch beizuwohnen, auch wenn ein verstimmter amerikanischer Reporter beim anschließenden Empfang – Weißwein, schlichtes Dim Sum, Lo-Mein-Nudeln, gegrillte Spareribs – gemosert hatte, dies sei die Vorführung für die ›B-Liste‹, die Privilegierten auf der ›A-Liste‹ bekämen Hummer, Kaviar und Champagner.
    Xian Bai machte das nichts aus; der Film hatte ihm eh schon gründlich den Appetit verdorben. Es handelte sich um eine von sirupartiger Musik triefende, mit Busby-Berkeley-Tanzeinlagen aufgepeppte Zeichentrickversion des heroischen langen Marsches der chinesischen Revolution mit Tschu En-Lai als Fuchs, Tschiang Kai-Scheck als Mungo, der Volksarmee als fröhlichen Ameisen und dem Großen Vorsitzenden Mao selbst als grinsendem und ziemlich übergewichtigem Panda.
    »Ihnen ist doch wohl klar, daß die Premiere dieser Scheußlichkeit in den Vereinigten Staaten die sofortige und dauerhafte Schließung des chinesischen Marktes für all ihre Unternehmen zur Folge haben wird«, teilte Xian Bai dem Disney-Direktor seinen eigenen
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