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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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David Garnett • England
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    Dann wachte ich auf.
    Ich hatte Kopfschmerzen, mein Magen revoltierte, mein Hals war trocken, und ich hatte einen ekligen Geschmack im Mund. Mit anderen Worten: Ich hatte einen furchtbaren Kater.
    Das allein war nicht besonders außergewöhnlich. Allerdings lag ich seltsamerweise nicht zu Hause in meinem Bett – und auch nicht in einem fremden Bett –, sondern unter freiem Himmel.
    Ich setzte mich langsam auf. Ich befand mich nicht nur im Freien, sondern zudem noch irgendwo auf dem Land. Wie war ich hierhergekommen? Ich versuchte mich an die Ereignisse vom Vortag zu erinnern und ließ den Blick über meine neue Umgebung schweifen.
    Das alles wirkte sehr vertraut – der Wald, das Dorf am Ufer des schmalen Flusses in knapp einem Kilometer Entfernung, die fernen Hügel –, obwohl ich ein paar Sekunden benötigte, um zu erkennen, wo ich mich befand. Ich war schon einmal hier gewesen, wenngleich nur in Gedanken. Ich hatte mir diese Landschaft ausgedacht – und inzwischen war sie keine reine Fiktion mehr.
    Konnte das alles nur ein Traum sein? Nein, diese Frage stellte sich gar nicht erst, denn alles hier war zu klar und greifbar für eine alkoholbedingte Wahnvorstellung.
    Und daher war ich mir nicht nur (mehr oder weniger) meines Katers bewußt, sondern ich erkannte auch, daß ich mich nicht länger auf der Erde befand, so wie ich sie kannte. Statt dessen hielt ich mich auf dem Planeten auf, den ich erschaffen hatte – der Werld.
    In Fantasyromanen passiert das andauernd: In einem Moment lebt der Held noch im Hier und Jetzt, und dann wird er plötzlich in eine alternative Realität versetzt, weil mal wieder einer dieser Wirbel im Raum/Zeit-Kontinuum auftaucht und ihn in eine andere Dimension zieht.
    Genau darüber hatte ich gestern geschrieben.
     
    Ich schaute auf meine Armbanduhr, aber sie war stehengeblieben. Offenbar funktionierten quarzgesteuerte Digitaluhren hier nicht. Es schien früher Morgen zu sein, also ungefähr zehn oder elf Uhr.
    Ich lehnte mich an einen Baum, der passenderweise direkt neben mir wuchs. Ich hatte keine Ahnung, um welche Art Baum es sich handelte. Es war einfach nur eine der pflanzlichen Requisiten, mit denen ich den Ort in meiner Phantasie ausgestattet hatte. Als ich mich umsah, erkannte ich, wie kärglich meine außerstädtischen Gegenden im allgemeinen beschrieben wurden.
    Abgesehen von ein paar nahezu identischen Bäumen, die den Waldrand hinter mir bildeten, gab es lediglich einige Hügel am Horizont sowie den kleinen Fluß, der sich durch das Dorf schlängelte. Darüber hinaus war die Gegend ziemlich öde und voller leerer Flecke, die nur darauf warteten, gefüllt zu werden.
    Es hätte eine Handvoll abgelegener Farmen geben sollen und ein paar Tiere auf den Feldern. Selbst an dem fast wolkenlosen blauen Himmel war kein einziger Vogel zu entdecken. Zumindest regnete es nicht, aber auch nur, weil ich mir selten viele Gedanken über das Wetter machte.
    Bei dem Dorf hatte ich mir etwas mehr Mühe gegeben: eine kleine Ansammlung von strohgedeckten Cottages, aus deren Schloten sich träge Rauchfahnen emporschraubten. Ich lasse Rauchfahnen sich, oft träge emporschrauben, aber jetzt sah ich sie zum erstenmal tatsächlich vor mir.
    Was sollte ich machen? Es hatte keinen Sinn, an Ort und Stelle zu bleiben und darauf zu warten, daß ich wieder in die reale Welt zurückversetzt wurde, denn das war im Plot nicht vorgesehen.
    Die reale Welt? Das hier war jetzt meine Realität.
    Ich fühlte mich äußerst unbehaglich, denn ich hatte es noch nie gemocht, im Freien auf dem Boden zu sitzen. Es war nicht natürlich, all dieser Dreck und die krabbelnden Insekten. Aber hier war ich auf einem Fleck hübschen sauberen Grases erwacht, und bis jetzt hatte ich noch keine Insekten bemerkt. Vielleicht gab es gar keine. In meinen anderen Büchern kamen nie irgendwelche Insekten vor; sie wurden nicht benötigt.
    Behutsam und mit angemessener Rücksicht auf meinen Kopf stand ich auf.
    Ich schätze, daß ich mich zumindest ein wenig überrascht hätte fühlen sollen, aber das alles wirkte ziemlich normal, beinahe als hätte ich damit gerechnet.
    Ich erinnerte mich jetzt, was gestern passiert war. Ein ziemlich normaler Tag. Ich war rechtzeitig genug für die zweite Postzustellung aufgestanden, hatte um die Mittagszeit gefrühstückt und Nachforschungen betrieben, indem ich die Zeitung las. Dann hatte ich mich für ein paar Stunden an meinen
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