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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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und gelangte auf eine weitere Plattform. Diese schwankte jedoch nicht, als sie darüberbalancierte. Unter ihr lag die oberste Stufe des Zikkurat, und zu ihrer rechten klaffte eine ungefähr zwei Meter tiefe, mehrere Meter breite Spalte. Sie nahm gerade noch wahr, daß die Oberfläche der Bühne aus schwarzem Glas oder Formica bestand, auf der goldene Sprenkel wie Lichtreflexe glänzten.
    »Nehmen Sie Vernunft an, bitte!« gellte hinter ihr eine Stimme.
    Eamon, ich komme, dachte Billie und sprang. Sie warf sich in den klebrigen, lebendigen Glast, und in diesem Augenblick spürte sie, daß er anders war als jedes ihr bekannte Licht. Ihre Haut begann zu prickeln, und wo sie es mit dem Körper aussperrte, flitzten Schatten hin und her, sich auf unterschiedlichen Ebenen überkreuzend, wie die Scheinwerferkegel der vorbeidonnernden LKWs, die sich nachts durch ihr Schlafzimmerfenster brannten. An den Schnittpunkten der einzelnen Strahlen schillerten grelle Regenbogenfarben.
    Über ihrem Kopf schienen Sterne in die Unendlichkeit hineinzureichen, um dann auf dem Weg ins Universum zu erlöschen. Aber die Sterne waren willkürlich zu einem geometrischen Muster angeordnet.
    Das Licht war geradezu massiv, stofflich; einen Moment lang kam es ihr so vor, als setzte es ihr Widerstand entgegen, als bewege sie sich durch Wasser. Sie erinnerte sich an den See, in dem sie als Kind geschwommen war. Sie dachte an ihre Eltern. Und dann lag sie zusammengekrümmt auf der Bühne und spähte nach unten.
    Die Fläche war aus einem polierten Material, das eingedunkelt war wie Rauchglas, aber aus transparenten Schichten bestand, die sich gegeneinander bewegten. Dort fand sie auch die Sterne wieder, die in eine bodenlose Tiefe absanken, durch das Gelände des Stadions hindurch, den Erdball spaltend; und im Zentrum der Galaxis flammten zwei Sonnen, die ihre Koronen nach oben schleuderten.
    Nicht hinsehen, warnte sie ein Instinkt, und sie wandte den Blick ab. Alles war stockfinster, und als sie sich aufrichten wollte, strauchelte sie; sie hatte sich den Knöchel verstaucht. Geblendet, die Haut versengt wie bei einem Sonnenbrand, drehte sie sich zu Eamon hin. Hinter ihr polterten Schritte, und durch den Schleier ihrer Blindheit sah sie Eamon, eine Gestalt aus Licht, wie ein Engel, der in einem inneren Feuer glühte. Er wußte nicht, daß sie da war.
    Das Gewicht der ganzen Welt schien auf sie herniederzustürzen, brachte sie zu Fall; es war nicht nur der Druck der fremden Arme, die ihre Knie umklammerten, und die Wucht des Anpralls, die sie auf der Bühne festhielten. Tu es nicht! Sieh nicht hinunter! Eine innere Stimme schrie ihr diese Warnung zu, und sie wußte, daß sie bei einem zweiten Blick für immer erblinden würde. Statt dessen schaute sie nach oben.
    Sie sah Eamon Strafe. Er sang.
     
    Eine Stimme im Nebel,
    wie der Schlag einer Faust,
    ein Traum im Vergehen.
     
    Eamon Strafe war durchsichtig, und in seinem diaphanen Abbild schwebten Staubkörnchen, die funkelten wie Galaxien. In seinen Augen, in seinem Mund, befand sich nichts. Schwarze, verschattete Höhlungen, durch die das Gerüst und der Bühnenaufbau schimmerten. Er bestand aus einem Schachbrettmuster, zusammengefügt aus kleinsten, farbigen Mosaikstückchen; durch sein Haar, seine Zähne, seine Zunge, die Augen und die Kleidung floß in einer trägen Strömung glitzernder Staub. Wenn man versucht hätte, ihn anzufassen, hätte die Hand ins Leere gegriffen.
    Billie wurde auf die Füße gestellt, herumgeschwenkt und an den Armen fortgezerrt; ihre Beine schleiften über die glatte, leicht ölige Bühnenfläche. Sie mühte sich ab, Tritt zu fassen, und humpelte dann aus eigener Kraft vorwärts, trotz des verstauchten Knöchels. Die Wachleute schleppten sie hinter den Bildschirm. Als sie sich einmal umschauen wollte, drehte ihr einer das Gesicht wieder nach vorn.
    Hush Hush stand auf den Ärmeln; sie trugen dicke Schutzkleidung und verspiegelte Visiere. Noch nie hatte Billie so schnell geschaltet.
    »Ich habe ihn gesehen!« trumpfte sie auf. »Ich habe Eamon gesehen! Ist er nicht wunderschön?«
    Die Männer erwiderten nichts darauf. Unter ihnen erstreckte sich der unbenutzte Teil des Stadions. Licht flirrte über leere Sitzreihen, unsichtbare Menschen, die einer geisterhaften Musik lauschten. So sieht die Zukunft aus, dachte Billie, so wird es einmal kommen.
    Sie erreichten Leitern.
    »Klettern Sie hinunter. Wenn Sie abstürzen, ist es nicht unsere Schuld. Wir übernehmen keine
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