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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Verantwortung, haben Sie das verstanden?«
    »Ist schon klar«, lallte Billie, in dem Versuch, eine Betrunkene zu mimen.
    Drunten warteten ein paar Männer. Einer war ein langaufgeschossener Kerl mit einem Ponyschwanz und Ohrring.
    »Sind Sie verletzt?« erkundigte er sich. Er kam zu ihr und packte sie beim Handgelenk. »Können Sie sehen? Tut das weh?« Vorsichtig rieb er die Haut über ihrem Gelenk. Ein stechender Schmerz machte sich breit. Die Haut glühte krebsrot. »Au!« schrie sie. »Ich komme gerade aus Ibiza«, erklärte sie. »Da hab ich etwas zuviel Sonne abgekriegt.«
    Die beiden Männer tauschten nervöse Blicke. »Und Sie haben Eamon wirklich gesehen?« vergewisserte sich der andere Typ. Er hatte eine gedrungene, ungeschlachte Figur, einen Stiernacken, und trug ein weißes Hemd mit Krawatte. Seine Stimme klang tief. Wie weit würde er gehen, um eine Investition zu schützen?
    Sie mußte von hier verschwinden, ehe der andere Wachmann kommen und sagen konnte: Sie kannte das Paßwort. Sie wußte, wie man die Tür öffnet.
    »O ja. Er sieht noch besser aus, als ich dachte.« Sechzehn. Billie erinnerte sich an die Zeit, als sie sechzehn Jahre alt war. Noch hatte sie etwas von dem Teenager an sich, der über gewisse Dinge staunen, aber auch leicht verletzt werden konnte.
    »Jetzt ist mir alles egal. Hauptsache, ich habe ihn gesehen!« Sie hopste auf und nieder. »Endlich, endlich, endlich! Kennen Sie ihn? Spricht er manchmal mit Ihnen? Wie ist er denn so?« Sie brach in Tränen aus.
    »Gelegentlich wechseln wir ein paar Worte«, sagte der mit dem Ohrring und schaute ein kleines Bißchen betreten drein. »Ich finde ihn sehr nett.«
    »Haben Sie sonst noch etwas gesehen?« bohrte der mit dem weißen Hemd weiter.
    »Ich hatte für nichts Augen außer für Eamon«, behauptete sie, Rotz und Wasser heulend.
    Die beiden Männer schauten einander an. Roadies, dachte sie. Die waren mal Roadies für eine Band und hatten eine tolle Idee.
    »Wenn Sie eine Eintrittskarte haben«, sagte der Ohrring, »dann können Sie jetzt zu Ihrem Platz zurückgehen.«
    Sie suchte nach ihrer Handtasche. »Ich habe sie verloren«, kreischte sie, wobei ihr Entsetzen nur halb gespielt war. »Sie ist weg!«
    »Tut mir leid, Herzchen«, meinte der mit dem weißen Hemd. »Dann müssen wir Sie rausschmeißen.«
    »Nein, bitte nicht!« winselte sie. Ein Hinauswurf war genau das, was sie wollte.
    Sie fragten sie nach ihrem Namen. Ob sie sich ausweisen könnte? Sie hatte die Karte der Wohnungsbaugesellschaft dabei, auf der ihr Vorname Wilhelmina angegeben war.
    Just in dem Augenblick, als Eamon Strafe aufhörte, über Nebel und vergehende Träume zu singen, öffnete sich eine Pforte in einem großen Tor, durch das ein LKW gepaßt hätte.
     
    Das Tor ging wieder zu, und Billie stand draußen. Es nieselte. Bei Nacht sah London am ansprechendsten aus. Der Asphalt und die Pflastersteine reflektierten die orangegelbe Straßenbeleuchtung, und die Wassertropfen auf den Autos und Fensterscheiben funkelten wie kleine Juwelen.
    Billie fing an zu lachen.
    Sie lachte, weil sie mit ihren Nerven am Ende war. Sie fand es köstlich, wie sie die Wachen überlistet hatte. Ausgelassen drehte sie sich auf dem Absatz herum und kickte nach einer Flasche. Verdammt noch mal, was hatte sie getan? Wie Tarzan war sie über das Gerüst geturnt, hatte den Ordnern ein Schnippchen geschlagen und die Wahrheit über Eamon Strafe herausgefunden.
    Es gab keinen Eamon Strafe. Vermutlich hatte er nie existiert. War dann all ihre Liebe, die ganze Anhimmelei, umsonst gewesen? Sie konnte sich nicht mehr halten vor Lachen, während es ihr gleichzeitig grauste.
    Dabei war er der Inbegriff eines Popstars gewesen. Der Realität entrückt, stets vollkommen, seine öffentlichen Auftritte wohldosierend, indem er sich rar machte, dabei in Würde und Schönheit alterte. Und dann seine Fans! Sie kauften CDs, Software, Eintrittskarten; die Frauen schmolzen beim Gedanken an ihn dahin. Was für Idioten wir doch waren, wir alle haben uns hereinlegen lassen. Ein kapitaler Witz!
    Eine beschissene Welt ist das, ein einziger Misthaufen, jeder ist nur darauf aus, dem anderen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich habe euch durchschaut, sagte Billie zu den Straßenlaternen und den für die Nacht geschlossenen Läden; ich weiß, was ihr seid, egal, wie klein und schäbig oder wie groß und selbstherrlich ihr euch gebt. Und wißt ihr was, ihr könnt mich alle mal, vor euch habe ich keine Angst mehr.
    Ich
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