Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
habe mich von dir befreit, Eamon. Du Karikatur! Du hohles Faß! Du Furzknoten! Du warst ein Hirngespinst!
    Wie ein Kind platschte sie übermütig durch eine schlammige Pfütze. Wieder lachte sie und betrachtete in dem schwarzen Wasser ihr Gesicht, das transparent war wie das von Eamon. Groll stieg in ihr auf, und mit dem Fuß zerstörte sie das Bild; doch zuvor hatte sie gesehen, daß ihre Haut mit Brandblasen übersät war.
    Sie hatte erreicht, was sie wollte, was auch immer dies war; und nun sollte sie diese Gegend lieber schleunigst verlassen.
    Während der langen Heimfahrt legten sich sowohl ihre Furcht wie ihre Euphorie. Durch das Fenster beobachtete Billie, wie die Wände des U-Bahn-Tunnels als schwarze, vermischte Schatten vorbeihuschten, und sie fragte sich, wie es mit ihr weitergehen sollte: Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und habe gewisse Talente, unter anderem kann ich auf Gerüsten herumturnen. Ich arbeite für die Wohnungsbaugesellschaft und komme gut mit diesen Leuten aus. Und ich habe meinen Sohn. Sie überlegte, was sie tun würde, wenn sie nach Hause käme.
    Von der U-Bahn stieg sie in einen Bus um. Ein Betrunkener fuhr mit, übelriechend und mit krächzender Stimme singend. O Gott, er grölte ja einen Song von Eamon Strafe. Siehst du, wohin das führt, Kumpel? Der Mann schien um die fünfzig zu sein, und Billie konnte nicht sagen, ob seine Haut vor Schmutz oder einem ausschweifenden Lebenswandel so dunkel und fleckig war. »Das Leben könnte schön sein«, krakeelte er. Es schien ihm gutzutun.
    Wenn man einem weinenden Baby ein Band mit seinem eigenen Geplärre vorspielte, beruhigte es sich. Was anderes hast du uns auch nicht geboten, Eamon. Du hast dich unserer Lautäußerungen bedient. Die Musik kam von uns, nicht von dir.
     
    In ihrer dunklen Wohnung fand Billie eine Nachricht von ihrem Babysitter. Auf dem Zettel stand, Joey sei eingeschlafen, und deshalb ginge sie heim. Verflucht noch mal, dachte Billie, der Sinn der Sache ist doch, daß jemand bei dem Jungen bleibt, wenn er schläft. Von mir aus, resignierte sie, aber bezahlen werde ich dich nicht.
    Leise öffnete Billie die Tür zu Joeys Zimmer; sie konnte ihn riechen und seine weichen, kindlichen Atemzüge hören. Im Grunde war er ihr fremd; sie wußte nicht, was er dachte oder fühlte. Sie spürte einen Ausbruch von Liebe und Bedauern, als hätte sie in eine bittere Frucht gebissen. Wieder empfand sie Wut auf Eamon Strafe. Vor dem Bett kniete Billie nieder und streichelte ihrem Sohn über das rote, leicht fettige Haar.
    »Joey«, flüsterte sie, »es tut mir leid.«
    Er stöhnte und wälzte sich auf die andere Seite.
    »Ich werde dir eine bessere Mutter sein, das verspreche ich. Nächsten Samstag unternehmen wir zusammen etwas Aufregendes.«
    Er rührte sich nicht.
    »Es tut mir leid, daß das Leben nicht schön ist.« Sie meinte, es täte ihr leid, daß sie ihm das Leben nicht schön gemacht hatte.
    »Ich schlafe«, murmelte er und zog eine Schnute.
    »Du weißt, daß ich dich liebhabe, nicht wahr?«
    Er gab keine Antwort, aber daran war Billie gewöhnt.
    Sie küßte ihn und ging in ihr Schlafzimmer, ihre eigene kleine Welt mit dem Bett, den Postern, den Stiefeln und Strumpfhosen auf dem Fußboden – und dem Computer. Sie schaltete ihn ein.
    »Hallo«, sagte sie, während die schwarze Wut in ihr hochkochte. Sie kam sich sehr stark vor.
    Das Bild entrollte sich vom oberen Rand des Schirms aus. Eamon saß in seiner Garderobe; er begrüßte sie überschwenglich, froh, sie zu sehen. »Hallo, Liebste, toll, daß du dich wieder mal meldest.« Trotz der Sonnenbräune wirkte er erschöpft und abgespannt in dem weißen, zerknitterten Anzug mit dem Fleck auf der Hose.
    Das war ihr Eamon. Paradoxerweise empfand sie Mitleid mit ihm.
    »Hat dir die Show gefallen?« fragte er. Draußen, vor der Garderobe, war das Publikum immer noch dabei, rhythmisch zu klatschen, mit den Füßen zu stampfen und eine Zugabe zu fordern.
    Billie wählte ihre Antwort mit Bedacht. »Ich habe viel gelernt«, erwiderte sie. Sie setzte sich auf das Bett und sah Eamon an. »Heute abend war ich auf der Bühne. Ich sah Eamon ganz aus der Nähe, ich stand direkt neben ihm. Er existiert gar nicht, er ist eine Art Hologramm.«
    »Was?« Dieser Eamon gab ein nervöses Glucksen von sich.
    »Eamon Strafe hat niemals gelebt. Er war von Anfang an ein künstliches Produkt.«
    »Aber Zeitungen haben doch Fotos von mir gebracht.«
    »Sicher, Fotos von dir. Und dich gibt es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher