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Das Jahr der Maus

Das Jahr der Maus

Titel: Das Jahr der Maus
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Schreibtisch gesetzt und Ausreden gesucht, um nicht mit der Arbeit beginnen zu müssen. Schließlich hatte ich das Textverarbeitungsprogramm gestartet. Ich hatte mit dem Exposé für einen Fantasyzyklus begonnen, aber schon die Zusammenfassung war langweilig, also gab ich nach einer Weile auf und ging in den Pub auf der anderen Straßenseite.
    Wie üblich wußte ich kaum mehr, was nach den ersten paar Drinks passiert war. Sich zu betrinken, ist eine weithin bekannte Methode, um Zeitreisen durchzuführen – man muß nur genug trinken, und plötzlich wacht man am nächsten Tag auf. Ich hatte allerdings noch nie davon gehört, daß man es auch als Transportmittel in eine Fantasywelt benutzen kann.
    Vielleicht war das die Methode, mit der ich meinen Protagonisten von seinen physischen und temporalen Koordinaten weghexen sollte. Immerhin eine bessere Idee, als ihm irgendeinen Runentalisman unterzujubeln. Ursprünglich hatte ich meinem Lektor vorgeschlagen, einen Orgasmus als Auslöser des Transports zu benutzen, aber Derek hatte mir versichert, daß Fantasyleser keine ungewohnten Überraschungen mochten. Er bevorzugte einen etwas traditionelleren Ansatz – daher der Talisman.
     
    Vor einer Woche, genaugenommen vor einem ganzen Zeitalter, hatte ich mit Derek in London einen oder mehrere Drinks zu mir genommen, und er hatte vorgeschlagen, ich sollte doch mal irgendwelche Fantasy schreiben. Ich war nicht gerade begeistert. Der Begriff ›Fantasy‹ ist ziemlich heruntergekommen und läßt inzwischen bloß noch an Hexen und Zauberer denken, Kobolde und Gnome, alle möglichen mythischen Viecher und legendären Ungeheuer, so wie sprechende Drachen und tänzelnde Einhörner – und natürlich an den gefürchteten Thesaurus, der bedrohlich die Seiten eines jeden Fantasyepos heimsucht.
    Sobald Derek die Vorschußsumme erwähnt hatte, stieg mein Interesse. Der Leser von heute schätzt Fantasy. Sie spielt meist in einer Welt, die auch für den geistig Unterbelichteten überblickbar ist. Dort kann sich jeder heimisch fühlen, der sich schwer tut, in seinem komplizierten Alltag zurecht zu kommen. Fantasy läßt sich deshalb gut verkaufen. Ein weiterer Punkt, der für einen vorteilhaften Abschluß sprach, war die Tatsache, daß er nicht bloß ein einzelnes Buch umfassen würde. Es würde zumindest eine Trilogie geben, vielleicht sogar einen ganzen Zyklus. Der Fantasy-Leser haßt es, eine Welt zu verlassen, wenn sie ihm der Autor einmal eingerichtet hat. Er mag es nicht, wenn seine Vorstellungskraft überstrapaziert wird, da er selten über so etwas verfügt.
    Ich mußte lediglich ein passables Exposé und ein paar Beispielkapitel liefern, dann würde Derek einen Vertrag über drei Bücher mit mir abschließen. Nur ein Idiot schreibt heutzutage noch einen Roman, ohne ihn vorher verkauft zu haben, und die Herausgeber ziehen es bei weitem vor, Titel einzukaufen, bevor diese geschrieben sind – auf diese Weise bleibt ihnen die Lektüre von Manuskripten erspart.
    Also haben wir uns über das Projekt unterhalten, über zugkräftige Titel, den Umfang (möglichst dick), wie die Umschläge aussehen sollten (ich sprach mich für attraktive Kriegerinnen aus), ob es Innenillustrationen geben sollte (was hilfreich ist, weil Bücher ohnehin immer häufiger wie Comics ausfallen), ob die Karte farbig sein sollte oder nicht, ob man ein Glossar, einen Anhang und eine Liste der handelnden Personen vorsehen würde (deren Namen so wenige Vokale wie möglich enthalten müßten, damit sie unaussprechlich gerieten). Eben all die wesentlichen Gesichtspunkte.
    Dann ging ich nach Hause und dachte mir die unwichtigeren Einzelheiten aus: die Charaktere, den Hintergrund und den Plot.
    Ein letzter verirrter Erinnerungsfetzen fand an seinen Platz zurück, und mir fiel wieder ein, daß ich nach der Sperrstunde nach Hause zurückgekehrt war und mich sofort an meinen Schreibtisch gesetzt hatte. Inspiriert durch den Alkohol, hatte ich angefangen, das erste Kapitel zu schreiben.
    Ich hatte weitergetrunken, meinen Output in Seiten gemessen und meinen Input in Pints, während die Worte auf dem Monitor zu grün leuchtendem Dasein erwachten und zu Sätzen und Absätzen anwuchsen. Auf diese Weise entstand eine ganze Welt. Wer benötigt schon sechs Tage dafür?
    Während ich das alte heilige Ritual des Trankopfers von vergorener Gerste und Hopfen vollzog und zur gleichen Zeit meinen Gedanken gestattete, direkt in die technisch-magischen Tiefen meines Computers zu fließen,
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