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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht
Autoren: Dean Koontz
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der Arbeit im Monstrositätenkabinett hatte es sich gut leben lassen. Dort wurden zehn Ausstellungsstücke in einem einzigen Zelt präsentiert.
    Auf seiner kleinen Bühne hatte er im Profil dagesessen und die attraktive Seite seines Gesichts dem Gang mit dem Sägemehl zugewandt, durch das die Fußspuren von einer Sehenswürdigkeit zur anderen führten, von der fetten Frau zum Schlangenmenschen. Wenn die Besucher sich vor ihm
scharten und herumrätselten, warum er wohl in diesem Rahmen ausgestellt wurde, drehte er sich um und zeigte ihnen seine zerstörte Gesichtshälfte.
    Erwachsene Männer schnappten nach Luft und erschauerten. Frauen fielen, wenn auch im Lauf der Jahrzehnte immer seltener, in Ohnmacht. Zutritt hatte man erst ab achtzehn, weil Kinder, die ihn sahen, für den Rest ihres Lebens ein Trauma davontragen könnten.
    Ohne das Gesicht von ihnen abzuwenden, war er aufgestanden und hatte sein Hemd ausgezogen, um ihnen seinen Oberkörper zu zeigen. Das Patchworkmuster aus wulstigen Narben und die bleibenden Striemen von primitiven Metallklammern, die seltsamen Wucherungen …
    Jetzt hatte Nebo ein Tablett neben sich stehen, auf dem dünne Stahlnadeln und winzige Fläschchen mit Tinte in den verschiedensten Farben aufgereiht waren. Mit großer Geschicklichkeit tätowierte der Mönch Deucalions Gesicht.
    »Das ist mein Geschenk, ein Muster zu deinem Schutz.« Nebo beugte sich weiter vor, um sein Werk zu begutachten, ehe er sich an eine noch kompliziertere Zeichnung in dunklen Blautönen, in Schwarz und in Grün machte.
    Deucalion zuckte kein einziges Mal zusammen, aber er hätte auch nicht aufgeschrien, wenn ihn tausend Wespen gestochen hätten. » Lässt du ein Puzzle auf meinem Gesicht entstehen?«
    »Dein Gesicht als solches ist schon Puzzle genug.« Der Mönch blickte lächelnd auf sein Werk und auf die unregelmäßige Fläche hinunter, der er seine üppigen Entwürfe einprägte.
    Nadeln, von denen Farbe und Blut tropften, piksten, schimmerten und stießen klappernd aneinander, wenn Nebo zwischendurch zwei Nadeln gleichzeitig benutzte.
    »Bei einem so detailreichen Motiv sollte ich dir eigentlich etwas gegen die Schmerzen geben. Wir haben Opium
im Kloster, obgleich wir seinen Gebrauch nicht oft gutheißen. «
    »Ich fürchte den Schmerz nicht«, sagte Deucalion. »Das Leben ist ein Meer von Schmerzen.«
    »Vielleicht das Leben außerhalb dieser Mauern.«
    »Sogar hierher bringen wir unsere Erinnerungen mit.«
    Der alte Mönch wählte ein Fläschchen mit karmesinroter Farbe, um groteske Vertiefungen und zerklüftete Hautareale zu verbergen und unter dem dekorativen Muster eine Illusion von Normalität zu erschaffen.
    Er vollendete seine Arbeit schweigend, bevor er sagte: »Das wird als Ablenkung für das neugierige Auge dienen. Aber natürlich wird nicht einmal ein Muster mit so vielen Einzelheiten alles verbergen.«
    Deucalion hob eine Hand, um die brennende Tätowierung auf dem Narbengewebe zu berühren, das wie die Oberfläche eines gesprungenen Spiegels wirkte. »Ich werde bei Nacht leben und auf Ablenkungsmanöver zurückgreifen, wie ich es schon so oft getan habe.«
    Nachdem er Stöpsel in die Tintenfläschchen gesteckt und seine Nadeln an einem Lappen abgewischt hatte, sagte der Mönch: »Noch ein letztes Mal, ehe du fortgehst … der Trick mit der Münze?«
    Deucalion setzte sich auf seinem Stuhl aufrecht hin und pflückte mit der rechten Hand eine Silbermünze mitten aus der Luft.
    Nebo sah zu, wie Deucalion die Münze durch seine Finger wandern ließ und dabei eine bemerkenswerte Geschicklichkeit an den Tag legte, wenn man die gewaltige Größe und das brutale Aussehen seiner Hände bedachte.
    Das hätte noch jeder gute Zauberer hingekriegt.
    Dann schnippte er die Münze mit dem Daumen und dem Zeigefinger in die Luft. Der Kerzenschein spiegelte sich in ihr, als sie sich hoch oben unter der Decke überschlug.

    Deucalion griff sie aus der Luft und hielt sie mit seiner Faust umklammert … und als er die Faust öffnete, war seine Hand leer.
    Auch das hätte noch jeder gute Zauberer hingekriegt, und dann hätte er die Münze hinter Nebos Ohr herausziehen können, was Deucalion jetzt ebenfalls tat.
    Aber das, was als Nächstes kam, verblüffte den Mönch restlos.
    Deucalion schnippte die Münze wieder in die Luft. Der Kerzenschein spiegelte sich in ihr. Und dann war die Münze vor Nebos Augen … spurlos verschwunden.
    Nebo hatte diese Sinnestäuschung schon viele Male gesehen. Er hatte sie aus einer
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