Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
Vom Netzwerk:
Großmutter ein Held, wenn es Prügel setzte – in seinen Augen natürlich auch! Wenn er sich mit angehaltenem Atem darauf konzentrierte, daß die Schläge nicht so weh taten, gab ihm die Vorstellung Kraft, er werde das Elternhaus verlassen, für immer, und nie mehr etwas von sich hören lassen. Und es half. Damit kam er über die Runden. Darauf kam es an, wenn er es richtig machte. Nicht nachgeben! Nicht jammern, wenn er ohne Essen auf sein Zimmer geschickt wurde; was die Gelegenheit war, ungestört weiter Fluchtpläne zu schmieden. Niemand war eingeweiht, auch seine Oma nicht, von der Chuck alles über Paris wissen wollte, das ausgeforschte Ziel seiner Träume. Ach was, Paris, schimpfte sie, da wimmelt es nur so von Franzosen.
    Jetzt, wo sie es aufgegeben hatte, nahm das Kind den Kampf auf, kämpfte, kämpfte mit allem Mut, den ein Kind aufbrachte, und der es einem Mann, der die Nervenverlor, überlegen machte. So sah sie es, und es war gut so. Es gab auch ihr Kraft. Wie gern nahm sie ihn danach in den Arm. Guter Junge, sagte sie und steckte ihm, wenn niemand sie beobachtete, Geld zu und Süßigkeiten. Klar, daß es Chuck auch oblag, sie auf ihren Spaziergängen zum Friedhof zu begleiten, wo sie nachschaute, wer alles schon tot war, oder ihr die Pillen aufzuheben, die ihr runtergefallen waren; wobei er sich immer beeilen mußte, bevor der Hund sie im Maul hatte. Den ganzen Tag war sie damit beschäftigt, sie zu suchen, sie abzuzählen und, wenn es an der Zeit war, in der genau vorgeschriebenen Reihenfolge einzunehmen, morgens, mittags, abends, die einen nüchtern, andere während einer Mahlzeit, wieder andere danach, die einen mit Flüssigkeit, bestimmte andere ohne; was sie ganz schön auf Trab und munter hielt – und Chuck auch, der das alles in ihrem Sinn zu beaufsichtigen hatte. In irgendeiner hellen Minute hatte sie dann die Nase voll gehabt, buchstäblich, denn sie hatte zu allem anderen auch noch Schnupfen, wovon sie sich mehr als von ihren Herz- und Atembeschwerden, an die sie sich inzwischen irgendwie gewöhnt hatte, den Schmerzen in der Hüfte und, was vom Wetter abhing, der Taubheit in den Beinen belästigt fühlte. Sie fühlte sich von ihrer Hinfälligkeit gedemütigt, und als noch immer vornehme Dame, die nie ungeschminkt und ohne sich die Haare gerichtet zu haben das Haus verließ, von dieser launischen, einmal verstopften, dann wieder immerzu laufenden Nase wie von einem Kobold, der Witze riß, außer Kraft gesetzt. Kobold? Nein, ein boshafter kleiner Teufel, der einem seinen Auswurf ins Gesicht spuckt, und das alle fünf Minuten.
    Auch an ihrem Grab war ein Besuch überfällig.
    An sich mochten sich die beiden, Emilie und ihr Hausarzt. Aber als er sich, mit einem übertrieben besorgten Gesichtsausdruck auch noch, in ihre Schnupfennase einmischte und den Schnupfen nicht einfach einen Schnupfen, sondern allergische Rhinititis nannte und schon seinen Rezeptblock zücken wollte, da hat sie ihm – mit einem Kopfschütteln und der Bemerkung »Es reicht!« – eine geknallt.
     
    Seinem Freund gefiel die Geschichte, vor allem natürlich die sympathisch resolute, herzhaft handgreifliche alte Dame, die sich nicht nur nicht hatte einschüchtern lassen von der Macht, die Ärzte haben, sondern zum Gegenangriff übergegangen war!
    Der eingebildete Kranke stirbt an der Krankheit, die er sich einbildet. Es sterben die, die sich einbilden, gesund zu sein. Es ist ein einziges unaufhörliches Sterben in jedem. Und die Nachrichten häufen sich. Nur noch über Fußball reden sie mit dem gleichen Interesse. Stellen Sie sich vor, erzählte mir mein Friseur vor einer Woche und schlug mit dem Kamm gegen die Schere, ein Stammkunde, ein Mann, gerade mal fünfzig, kräftig, kerngesund, läuft, ob es regnet oder schneit, dreimal die Woche seine zehn, fünfzehn Kilometer, sieben davon bergauf, glücklich verheiratet, das auch noch, und rauchte nicht mal, und fällt von einer Minute auf die andere tot um, bumms, Herzinfarkt! Was sagen Sie dazu? Der Kellner in meinem Stammcafé, sage ich, ist seit acht Tagen im Dauereinsatz, weil der liebe Herr Kollege, noch quietschvergnügt letzte Woche, auf der Intensivstation liegt, einfach so. Na ja, erhat gehustet, aber Lungenkrebs? Die Verkäuferin nebenan in der Bäckerei, sagte mein Friseur daraufhin, so ein süßes kleines lustiges Ding, noch richtig mit Babyspeck und so und Sommersprossen, will mir gerade mein Wechselgeld rausgeben und lächelt mich noch an – und plötzlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher