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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
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Warum Gefühle zeigen?
    Chuck geht die Straße runter
    und wenn er jemand trifft, sagt er automatisch
    Gut geht's mir, ja ausgezeichnet, tausendprozentig,
    glaubs mir!
    Und dann Sprüche wie
    Ja, wir telefonieren, gut, okay,
    Nein, ich weiß noch nicht, ob ich heut ins Kino geh!
    Chuck trifft halb München,
    setzt sich ins Capri,
    starrt gleich aufs erste nackte Knie
    und der erste Gedanke ist:
    Bleib sitzen, bis sie wieder Weihnachtsbäume verkaufen
    oder bis dir ungemütlich wird
    und die Füße in den Turnschuhen anfangen zu schwitzen
    oder bis ein Mädchen vorbeigeht
    mit dem Kleid mit den Flugzeugen drauf, aus denen
    Palmen wachsen
    und daß ihr der Wind über die Schenkel weht –
    zu welchen Träumen gibt das Anlaß?
     
    »… weißt du, die hat viel Phantasie, viel Erfahrung,
    aber in Wirklichkeit?« und wie die Sprüche heißen aus
    dem geschminkten
    Totenkopf der Eitelkeit.
    Du machst es
    Du bist es
    Du verstehst es
     
    Chuck beobachtet, wie sie geht
    wie alle anständigen Frauen, die sich eines Tages
    in Gedanken in die Toilette einschließen,
    um ein paar der miesesten Angewohnheiten eines
    fremden Mannes zu genießen,
    und wieder tönt es irgendwo
    Du machst es
    Du bist es
    Du verstehst es
    Der Mann dürfte keinen Namen haben,
    müßte erfolgreich sein
    und könnte eigentlich nur aus dem Luftschacht da oben
    kommen.
    Da geht sie, Hemmungen hätte sie keine,
    Lippenstift-Jäckchen,
    das Gesicht so weiß wie die Knochen von Papa,
    so unsichtbar wie Unterwäsche auf der Wäscheleine,
    verliebt in den Gedanken ihrer völligen Versklavung,
    zerfressen von Vitaminpillen,
    um etwas jünger auszusehen.
    Da geht sie,
    Chuck könnte ihr die Juwelen, die sie schmücken,
    einzeln ins Hautinnere drücken.
    Oder sieht er das alles etwas zu kraß?
    Vor allem wenn er zu Hause sitzt in seinem Zimmer,
    zwischen den Mädchen mit dem aufgemalten
    Hoffnungsschimmer,
    zwischen den Freunden, die erzählen, daß sie, um nicht
    durchzudrehen,
    nicht mehr aus dem Haus gehen –
     
    Chuck, der sein Kind liebt,
    das nie zur Welt kommen wird. 1

Einunddreißig Jahre später …
    Chuck war pleite, und auf der hohen Kante hatte er auch nichts, aber Sorgen machte er sich deshalb nicht. Es war ihm egal. Es war ihm das Geld, das er nicht hatte, so egal wie das Geld, wenn es hereinkam. Aber es rächte sich. Geld spürt, wenn man es nicht mag.
    Cus d'Amato, ein berühmter alter Boxtrainer, ein Mann, der viele Weltmeister hatte kommen und gehen sehen, war Gott dankbar, daß er nie auch nur annähernd so viel verdient hatte wie einige von denen, die, als sie zu ihm kamen, jung und mutig und stark waren und irgendwann, wenn sie Glück hatten, Champions wurden und Geld verdienten, viel Geld, die aber, als sie dann reich waren, nicht mehr die Kerle waren, die er als halbe Kinder auf der Straße aufgelesen, in sein Haus geholt, durchgefüttert, trainiert und wie ein Vater geliebt hatte 2 . Er wußte, wovon er sprach, wenn er von Geld sprach; das Geld hatte sie verrückt gemacht, die vielen Frauen, die dicken Autos, die sie fuhren, die Drogen, der Alkohol, bis sie schließlich wirklich verrückt waren, nur noch verrückt, krank und arm und verrückt. Sie hatten überlebt, hatten ihrer Mama ein Haus mit achtzehn Zimmern gekauft(und bar bezahlt) und jetzt wollten sie, wovon sie schon als kleine Kriminelle geträumt hatten, wie verrückt leben, als gebe es kein Morgen. Es war nicht das Boxen, die harten Schläge, denen man, weil man sie nicht kommen sieht, nicht ausweichen kann. Es waren nicht die Siege, um die man sie betrogen hatte, es war das Geld, die Scheine, ganze Bündel davon, die ihnen ihre maßgeschneiderten Anzüge ausbeulten. Sie hatten es bei sich, wie Hafenarbeiter ihren Lohn einstecken, einfach so, in der Hosentasche. Es war hart verdientes Geld. Und es war zum Vergnügen da, zum In-die-Luft-Werfen. Und dort blieb es hängen! Es löste sich in Luft auf. Die Luft stank vor Geld. Und dann wurde es dunkel. Geld war ein Gegner, härter als alle, gegen die sie im Ring gekämpft hatten. Geld, hatte d'Amato gesagt, ist nur zu einem gut, daß man es von einem Zug aus Fremden zuwirft.
    Was ganz das war, was Chuck dachte. Es ging weiter. Es hörte nicht auf. Nichts hörte auf, nicht plötzlich. Es gab immer eine Chance zu reagieren, und noch eine. Er kannte das. Und keinem erzählte er es lieber als seinem Sohn. Wichtiger als Geld war die Ruhe dessen, der keines hat.
    Sein Sohn suchte gerade den Tisch nach einem Wurfgeschoß ab, um die
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