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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
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lächelt sie nicht mehr, wird kreidebleich und bricht dann mit einem Schrei – einem Schrei, sage ich Ihnen! – zusammen. Daß Frauen schreien können, wußte ich, aber so? Er beugte sich zu mir herunter. Haben Sie mal eine Kolik gehabt? Nein? Aber ich! Man glaubt, man explodiert! Ein Schmerz wie ein Schuß! Das zu erleben, mein Freund, kann einem angst machen, richtig Angst!
    Der Friseurladen war eine Art Kantine – mit dem Vorteil, nichts verzehren zu müssen, man mußte sich, um seine Anwesenheit zu rechtfertigen, nicht einmal die Haare schneiden lassen. Außer auf den Boden zu spucken (und Tätlichkeiten jeder Art) war alles erlaubt.
    Man lebt, man stirbt, war es nicht einmal so? Heute stirbt man und schaut, daß man dabei halbwegs über die Runden kommt. Irgendwann stirbt man nur noch, und aus.
    Einer, der zur Tür hereinkam und einen hinkenden Hund hinter sich herzog, verkündete noch im Mantel: Auf dem Mars ist Wasser gefunden worden!
    Bei meinem Schwager in der Lunge auch, sagte der Friseur.
    Ah ja?
    Das ist es, dachte Chuck, die Angst, die Geschichten, die Schicksale! Da liegen die Profite, denn mit der Angst wächst der Hunger auf Hoffnung, und die steht in Gestalt eines Arztes vor einem, liegt in Form eines Rezepts,das er ausstellt, in deiner Hand und in Tablettenform beim Apotheker im Regal.
    Während wir, sagte sein Freund leise und noch ein wenig melancholischer, als er ohnehin schon geklungen hatte, wir, die wir die Poesie lieben, die Bücher, die Literatur, auch Regale bestücken, die Regale von Buchhandlungen, auch mit Hoffnung. Aber wer hört noch auf Dichter? Wer liest sie noch? Wer versteht, was sie sagen? Wer nimmt, was sie sagen, als Information? Was sind wir, hoffnungslose Fälle? Das gedruckte Wort, erledigt?
    Um ihn aufzuheitern, erzählte ihm Chuck von einem seiner Lektoren, mit dem er viele Jahre in einem anderen Verlag zu tun gehabt hatte, und von dessen Angewohnheit, jedem seiner Autoren zum Geburtstag einen Papierkorb zu schenken und als Grußadresse einen Satz von Samuel Beckett, seinem erklärten Lieblingsautor, immer den gleichen Satz, jedes Jahr wieder. »Es gibt zwei lohnende Momente beim Schreiben, den einen, wo man damit anfängt, den anderen, wo man es in den Papierkorb wirft.« Ich hab den Keller voller Papierkörbe, Papierkörbe in allen Farben. Ich könnte Ihnen, falls Sie mir Ihr Geburtsdatum und Ihre Lieblingsfarbe verraten, ja einen …
    Es half nicht, es half nichts.
    So kannte er seinen Freund gar nicht. Hatte er die angekündigte Heimsuchung der ersten der auf sein Sexualleben neugierigen Partybekanntschaften hinter sich? Hatte er sich das Rauchen abgewöhnt? Stand ein für ihn nicht ganz alltäglicher Termin bei einem Arzt an oder, was immerhin auch eine Erklärung seiner depressiven Stimmung sein könnte, einer bei einem Psychiater, einemPsychotherapeuten, einem Spezialisten für … ja, wofür?
    Unwillkürlich mußte Chuck an die Geschichte in Budapest denken, ein halbes Jahr her, als er sich nach einer Bleibe dort umschauen wollte und sich deshalb mit einem Bekannten seiner Freundin getroffen hatte, an das von ihm zubereitete Abendessen, an das lange gute Gespräch am Tisch seiner kleinen, nahezu leeren Wohnung, an das lange gute Frühstück am nächsten Morgen (er hatte, nach dem vielen Wein, kurzerhand bei ihm übernachtet), den Abschied am Bahnhof, wo ihn dieser vitale Mann kräftig in die Arme genommen hatte und ein baldiges Wiedersehen vereinbart wurde, an die Nachricht, die Chuck gleich nach seiner Ankunft in Wien erreicht hatte, kaum vier Stunden später, und kaum zu glauben: der Freund war tot, Selbstmord, Sprung aus dem Fenster der Nationalbibliothek, Sprung in die Tiefe. Er mußte direkt vom Bahnhof zum Tatort gefahren sein. Wie schnell die Wetter umschlagen, und wie lautlos! Er war zum einzigen, unfreiwillig letzten Zeugen seiner letzten Stunden geworden. Sosehr Chuck sich auch anstrengte, er fand nichts, was auf ein Leben hingedeutet hätte, das einer mit einem Ruck, wie auf Befehl, gewaltsam beenden will. Hatte er sich nicht, und das ausdrücklich, noch auf das am Abend stattfindende Konzert mit dem russischen Pianisten gefreut, wofür er gerade noch, glücklicherweise wie er sagte, eine Karte ergattert hatte? Der Eisschrank war gut gefüllt. An der Eisschranktür hingen kleine Zettel, alle mit Erledigen! überschrieben. Er sei, wie er erzählte, mit einem Buch, das er längst hätte zurückbringen müssen, noch nicht durch; er sei ein idiotisch
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