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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk
Autoren: Wolf Wondratschek
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langsamerLeser – und nannte sich in einem anderen Zusammenhang einen ›idiotischen Idealisten‹. Und noch etwas kam aus dem Gedächtnis zum Vorschein. An den Wänden hatten Bilder gehangen, darunter eine kleine weiße Arbeit mit einem groben grauen Strich, der Andeutung eines eilig ausschreitenden Menschen, die Chuck auffiel und gefiel; was wiederum seinem Gastgeber gefiel, der dieses Bild offenbar ebenfalls allen anderen vorzog.
    Wohin geht er, wollte Chuck wissen, was glauben Sie?
    Er geht nicht, er läuft.
    Er läuft, wohin?
    Er nahm die Pfeife, die er sich angezündet hatte, aus dem Mund und überlegte eine Weile. Wohin? Aus dem Bild.
    Als Chuck seine alte Freundin endlich am Telefon hatte und ihr vom Freitod ihres Freundes erzählte (»Am Ende angelangt, am toten Punkt – und konnte sich noch wie ein Rohrspatz über einen verstauchten Knöchel aufregen – er hatte vor, am nächsten Morgen zum Plattensee zur Weinernte zu fahren und sich nützlich zu machen; die Reisetaschen standen fertig gepackt im Flur schon bereit!«), sagte sie nur: Was weiß man schon von Menschen? Wie viele lernt man erst, wenn sie tot sind, richtig kennen.
    Das schloß, so wie sie es sagte, auch den ein, mit dem sie gerade sprach.
    Eine Sache, über die man zu lange spricht, verliert ihre Helligkeit, redete sein Freund langsam weiter, sie verliert ihre Farben. Und nach einer Pause: Die Buchstaben, die wir lesen, sind schon schwarz.
    Was war das, wenn nicht vielleicht der genau richtigeZeitpunkt, ihn zu seinem eigenen Glauben zu bekehren, ihm mit allen Argumenten, die er selbst gegen die Mutlosigkeit seiner Autoren immer ins Feld geführt hatte, zu widersprechen? Nur das nicht, dachte Chuck, nicht noch einer, der ›aus dem Bild‹ lief.
    Tun wir, was wir tun müssen. Machen wir weiter. Machen wir sie staunen. Auch wenn das Schreiben von Büchern immer mehr nur noch einer Zeremonie gleicht, einer einsamen ungeselligen Beschäftigung, weitermachen mit den Büchern, mit dem Glauben daran. Mein Ziel ist das Buch, das den Leser ergreift, das Buch, das dich umwirft, das Buch, das den Menschen, die es lesen, etwas antut, das Buch, das im täglichen Durcheinander der Geschichte den letzten Ton hört, den, der überdauert, wenn der überflüssige Lärm verstummt ist. Sie wissen, wen ich da zitiere.
    Ich weiß. 6
    Poesie als Heilmittel! Ärzte, die Verse verschreiben! Tschechow auf Krankenschein! Und weil wir, mein Lieber, gerade beim Thema sind, ich sollte diesen Pharma-Kapitalisten mal richtig einheizen, ihnen Feuer machen unter ihrem Arsch, eine kleine Bombe hochgehen lassen. Ich könnte mein Gedicht vortragen, diese sechs Seiten, mein Sizilianischer Sonntag , die ganze volle Ladung.
    Aber was hilft es, sagte er.
    Vielleicht nichts, vielleicht alles.
    Vielleicht.
    Vielleicht, ja.
    Hunger nach Sinn, sagte sein Freund.
    Hunger nach Sinn, ja, sagte Chuck. Wie schön.
    Und sein Freund wiederholte es. Ja, Hunger nach Sinn.
    Sie waren eine Weile still.
    Chuck sah ihn, während sie schwiegen, vor sich, weit nach Mitternacht, wie er ein Buch, in dem er gelesen hatte, zur Seite legte, seine Uhr vom Handgelenk nahm und – wie jemand, der einem abfahrenden Zug nachwinkt – eine Hand in die Höhe über seinen Kopf hob, sie streckte und drehte und dabei zuschaute, und das mit der Neugier eines Kindes, das nicht überrascht wäre, wenn sie, die Finger in fünf kleine Flügel oder kleine Propeller verwandelt, zum Fenster hinaus und auf und davon geflogen wäre, zum Himmel hoch und höher, wo die Hand, die fliegt, hin will?
    Das aber wäre eine Geschichte, die sein Freund keinem der von ihm betreuten Autoren so leicht hätte durchgehen lassen, auch Chuck nicht. Nicht, daß er Geschichten mit einem glücklichen Ausgang denunzierte, aber sie waren schwer zu schreiben, und deshalb selten. Ihm fiel auf Anhieb keine einzige ein. Der Schatten fällt, der Geisterhauch des Scheiterns. Sind es nicht die in der Liebe Glücklosen, die die Unsterblichkeit der Liebe garantieren? Ich bin einverstanden, ich kann nichts dagegen tun, sagte er. Romane sind kein Kino. Oder wie der unglückliche Ungar behauptet hatte: Es tut keiner Geschichte gut, wenn sie gut endet.
     
    Was sagen Sie zu folgender kleinen Geschichte, einer wahren Geschichte, wie Chuck betonte, eine, die ich selbst miterlebt habe, für die ich, um sie miterleben zu dürfen,sogar Eintritt bezahlt hätte. Ein Mann, der pleite war, suchte einen seiner Bekannten auf, erklärte ihm seine Notlage und bat ihn,
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