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Im Fadenkreuz der Angst

Im Fadenkreuz der Angst

Titel: Im Fadenkreuz der Angst
Autoren: dtv
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TEIL EINS
    1
    Ich bin nebenan bei den Johnsons vor der Garage und spiele mit Andy und Marty Basketball. Die Sommerferien sind schon nächste Woche zu Ende und bis jetzt habe ich meine beiden Freunde so gut wie gar nicht zu sehen bekommen. Andy musste im Juli einen Mathe-Nachhilfekurs besuchen. Und gleich danach sind seine Eltern mit ihm und mit Marty in ihr Ferienhaus auf der kanadischen Seite der Thousand Islands gefahren. Erst gestern sind sie zurückgekommen.
    Wenn Dad nicht dazwischengefunkt hätte, hätten sie mich auch mitgenommen. Er hat es ja auch schon ein paarmal erlaubt. Aber als er erfuhr, dass Mr und Mrs Johnson nicht rund um die Uhr anwesend sein würden, hat er einen Rückzieher gemacht. »Du bist zu jung, so einer Verantwortung bist du noch nicht gewachsen«, hat er gesagt.
    »Verantwortung? Wofür denn?«, wollte ich wissen. »Wir baden. Wir angeln. Dad, bitte, ich bin fast sechzehn.«
    »Du hast gehört, was ich gesagt habe.«
    Hatte ich. Und es war total ungerecht. Ich nehme keine Drogen. Ich hasse Alk. Und die Sache mit Mary Louise Prescott ist schon über ein Jahr her.
    Richtig blöd war es, wenn Andy und Marty mir perMail kleine Filme schickten und ich zugucken durfte, wie sie gewandert oder geschwommen sind oder Arschbomben vom Steg gemacht haben. Sie durften sogar alleine mit dem Boot rausfahren. »Und was machst du so, Sammy?«, haben sie lachend in die Kamera gefragt, während sie zwischen den Inseln durchdüsten.
    Aber jetzt sind sie zurück und alles ist super.
    Zumindest war es das bis eben. Dad ist auf unsere Veranda getreten. Heute ist ein bullenheißer Tag, aber das hat ihm niemand verraten. Selbst zu Hause, nach dem Abendessen, sieht er immer noch so aus, als stünde er in seinem Labor und würde die Mikrobenforscher bei ihrer Arbeit beaufsichtigen. Das Jackett hat er nicht mehr an, aber alles andere schon: Krawatte, Hemd, Manschettenknöpfe aus Perlmutt, Flanellhosen.
    Als ich ihn am Geländer stehen und uns zuschauen sehe, werde ich nervös. Eben noch habe ich klasse geworfen, jetzt geht gar nichts mehr.
    »Hat nicht viel gefehlt«, sagt Dad, als mein Ball zum dritten Mal hintereinander vom Brett wegprallt.
    Ich fange den Ball, bevor er auf die Straße springt, passe zu Andy und werfe Dad einen scharfen Blick zu. »Ist was?«
    »Könnten deine Mutter und ich dich für einen Moment beanspruchen?« Klartext: Zeit zum Beten. Mom hat Dad vor Jahren dazu gebracht, mich auf verschlüsselte Weise zum Gebet zu rufen, damit er mich nicht vor meinen Freunden blamiert. Aber Andy und Marty kennen die Nummer.
    »Jetzt gleich?«
    »Nein. Aber sagen wir in fünf Minuten?« Dad setzt sein künstliches Lächeln auf, das mit den steifen Lippen. »Tut mir leid, dass ich euer Spiel unterbrechen muss.«
    Hau ab, Dad, hau einfach ab.
Ich versende imaginäre Kraftfelder und stelle mir vor, wie Dad durch die Luft fliegt und sich in die Zukunft verabschiedet. Doch er bleibt stehen wie ein übler Furz.
    »Ihr Jungs seid in diesem Sommer ganz schön gewachsen!«, sagt er dann. Fast jedes Mal, wenn Dad uns sieht, sondert er solche bescheuerten Bemerkungen ab. Will Interesse zeigen. Tja, wenn er sich wirklich für uns interessieren würde, wüsste er, dass Andy bereits seit der neunten Klasse eins achtzig groß ist und dass die Jungs ihn deswegen Stelze nennen. Und dass Marty nicht in die Länge wächst, sondern in die Breite. Fritten, Coke, Chips. Wenn er so weitermacht, wird er bald so aussehen wie seine Eltern.
    Dad wartet darauf, dass einer von uns was sagt. Den Gefallen tut ihm aber keiner. Dad lässt den Kopf zur Seite kippen wie eine Wackelfigur auf einem Armaturenbrett, winkt uns steif zu und geht endlich –
endlich
– zurück ins Haus.
    Wir spielen noch ein bisschen weiter, aber es ist nicht mehr wie zuvor.
    Dad steht im Erkerzimmer und klopft von innen ans Fenster. Als er jung war, ist er vor der Geheimpolizei aus Iran geflohen. Und? Hat er kapiert, was Freiheit bedeutet? Sieht nicht so aus. Ich darf nicht mal mit meinen Freunden Basketball spielen.
    »Bis später«, sage ich.
    Im Hausflur ziehe ich Schuhe und Socken aus, wasche mir im Badezimmer Hände, Gesicht und Füße und gehe ins hintere Wohnzimmer. Ich nehme an, dass Mom und Dad schon vor den ausgerollten Gebetsteppichen stehen und mich erwarten. Doch das tun sie nicht, sie sitzen auf dem Ledersofa und essen Weintrauben. Die Teppiche liegen auf ihrem Regal unter dem Flachbildfernseher, obendrauf der locker gefaltete Hidschab von Mom. Ihr
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