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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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meinen Körper. Wesener hielt es für einen neuerlichen Anfall von Schüttelfrost und beeilte sich mit der Verarztung meiner Füße. Dann zog er die Decke darüber und steckte den Saum unter meine Beine.
    »Warum?« fragte ich betroffen. »Weshalb lassen die sie nicht schlafen?«
    »Die werden versuchen nachzuweisen, daß das, was das Fräulein für Visionen hält, nichts weiter als gewöhnliche Träume sind. Wer nicht schläft, der träumt nicht. Hat sie drei oder vier Tage keine Erscheinungen gehabt, wird man behaupten, das sei ein Beweis.«
    »Aber das ist lächerlich!«
    »Für Sie, für mich, für jeden anderen, der an die Wunder des Fräulein Emmerick glaubt. Aber wer das nicht tut – so wie Sie bei Ihrer Ankunft –, der wird die Sache ein wenig anders sehen.«
    »Kann man denn gar nichts tun?« Verzweiflung drohte erneut, meine Stimme zu ersticken.
    »Nichts ist schwieriger, als einen Ungläubigen vom Glauben zu überzeugen. Das sollten Sie doch wissen, Herr Brentano, gerade Sie. Die einzige, die einen Menschen von ihrer Gabe überzeugen kann, ist Anna selbst.«
    »Aber sie ist viel zu schwach dazu.«
    »Das befürchte ich auch.«
    »Und damit lassen Sie die Sache auf sich beruhen?« fragte ich wütend. »Sie machen es sich sehr einfach, finden Sie nicht?«
    »Das Fräulein Emmerick ist meine Patientin!« fuhr Wesener auf. »Für das Wohlergehen jedes einzelnen meiner Patienten bin ich bereit, alles zu tun. Aber was glauben Sie denn, was ich unternehmen könnte, um ihr zu helfen? Mir eine Flinte schnappen und damit ins Stadthaus marschieren?«
    »Der Gedanke an das, was Anna durchmacht, frißt mich auf«, sagte ich leise. Ich konnte ihm dabei nicht in die Augen schauen. »Diese Hilflosigkeit macht mich wahnsinnig.«
    Der Zorn verschwand aus Weseners Gesicht, und an seine Stelle trat abermals maskenhafter Gleichmut.
    »Ich freue mich, daß wir doch noch eine Gemeinsamkeit gefunden haben, Herr Brentano«, sagte er tonlos. Dann nahm er seine Tasche und ging.

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    24
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    Vielleicht war es mein Ordnungssinn, der instinktive Drang nach Vollständigkeit, der mir die Erwartung eingab, zuletzt würde mir auch Pater Limberg einen Besuch abstatten. Er war der Dritte. Der einzige, der noch fehlte.
    Nicht etwa die Vernunft sprach dafür, vielmehr mein Wissen um die Gesetze des Dramas. Das Fieber preßte die Wirklichkeit in die Schablone der Fiktion. So, wie man gedankenverloren unsichtbare Muster mit den Fingern malt und plötzlich von einer verzweifelten Besessenheit nach Symmetrie überkommen wird, dabei immer neue, immer ausschweifendere Formen kritzelt, ohne sich der symmetrischen Vollkommenheit je gewiß zu sein. Das Nichtsichtbare bleibt uns den Nachweis schuldig. Das tut es immer.
    Erst der Abbé, dann Doktor Wesener. Und Pater Limberg?
    Natürlich kam er nicht.
    Also kein rundes Drama. Keine Symmetrie.
    Und doch war es das, was mich schließlich auf den richtigen Gedanken brachte. Alles hatte sich immer nur um Symmetrie gedreht. Sie war der Schlüssel zu allem, was geschehen war und noch geschehen würde. Annas Symmetrie.
    Zwei Gesichter, das eine ausgezehrt und kränklich, das andere voller Anmut und Kraft: Annas Gegensätze, die sich insgeheim entsprachen. Auf der einen Seite Anna, wie jedermann sie kannte. Auf der anderen Seite ihr geheimes, ihr verschollenes, ihr sündiges Ich. Ein Geist, den es zur Vollkommenheit drängte, zur Vereinigung und – der Schlüssel! – zur Symmetrie des Ursprungs.
    Was war der Scheidepunkt gewesen? Der erste Besuch des Schutzengels? Die Wunden Christi im Leibe eines jungen Mädchens? Oder das Gelübde, die letzte Grenze, die es zu überschreiten galt – der Punkt, an dem der frisch geschlüpfte Schmetterling seine Flügel öffnete? Und, siehe da, es waren zwei gleiche Hälften, die eine rein und gläubig, die andere das Extrakt allen Menschseins: die Lust, die Gier, der Trieb zum Spiel. Zwei Schmetterlingsflügel, so gleich, und doch niemals dieselben. Dazwischen der Körper, der sie verband – bis das Gelübde ihn entzweiriß. Nicht die Trennung von Gut und Böse, sondern der Schnitt zwischen menschlichem Makel und göttlicher Tugend.
    Der Schlüssel! Keine Maria, keine Mutter Gottes. Nur Anna selbst, ihre andere, verstoßene Hälfte, Form geworden, manifestiert in Träumen und Visionen, auf der verzweifelten Suche nach neuerlicher Verschmelzung.
    Auf der Suche nach der perfekten Symmetrie.
    Als ich die Augen aufschlug, war das weiße Laken über mein Gesicht
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