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Der letzte Drache

Der letzte Drache

Titel: Der letzte Drache
Autoren: Marcus Schneider
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01 Prolog
    Das Haus war um 1810 gebaut worden. Eine wunderschöne herrschaftliche Villa mit einem großen, parkartigem Garten mit alten Bäumen, direkt am See. Baldur stand vor der Tür und klopfte. Das Haus verfügte über den letzten Stand der Technik, dazu gehörten ein Zahlenfeld an der Tür, eine Kamera, eine Gegensprechanlage und ein Öffner. Der Klopfer erzeugte im Haus ein elektrisch verstärktes akustisches Signal. Aber Baldurs Großvater liebte kleine Reminiszenzen an vergangene Tage und hatte deswegen statt einer profanen Klingel diesen Klopfer installieren lassen.
    Großvaters Haushälterin, Irina, öffnete die Tür. Sie kümmert sich um ihn, so lange Baldur denken konnte. Sie musste ihren 40. Geburtstag bereits hinter sich gelassen haben, aber sie strahlte eine zeitlose Schönheit aus, wie sie jetzt im Flur stand, mit ihrer weißen Schürze und ihn gewohnt kurz angebunden mitteilte, er möge sich doch direkt in das Arbeitszimmer begeben.
    Baldur war am Vortag 18 geworden und wie immer, wenn er Geburtstag hatte, stattete er tags darauf seinem Opa einen Besuch ab. Und wie immer schüchterte ihn das große, alte Haus ein. An der Wand hingen zahlreiche Bilder, Photographien, die allesamt den Hausherrn zeigten. Wie er vor einem Kampfflugzeug irgendwo in Schwarzafrika stand, auf einem Kamel in der Sahara, in einem Jeep, mitten im Dschungel, wahrscheinlich in Brasilien und vor einem Zelt, möglicherweise irgendwo im Wald in Mitteleuropa. Baldur wusste, dass es noch viele Zimmer und viele Bilder in diesem Haus gab. Sein Opa war schon weit über 90 Jahre alt und er war viel herumgekommen.
    Und die Bilder, die ihn nicht zeigten, waren Bilder von Drachen. Bilder von Drachen aus vielen Kulturen und vielen Zeiten. Lithographien und Stiche, Zeichnungen und auch Ölbilder. Aus dem deutschen Mittelalter ebenso wie aus China. Besonders beeindruckte Baldur eine mannsgroße Bronzestatue eines aufrecht stehenden Drachen, der sein Maul weit geöffnet hatte. Sie befand sich auf einem Podest gleich rechts vom Eingang in einem Erker.  Auf dem Sockel prangte eine lateinische Inschrift mit dem Namen des Drachen.
    “Gehen Sie schon, Ihr Großvater erwartet sie”, unterbrach ihn Irina.
    Baldur riss sich von den Bildern und seinen Gedanken los und stieg die Treppe hinauf. Er liebte das Licht in diesem Haus, das entstand, wenn die Herbstsonne durch die großen Fenstermosaiken fiel. Sie zeigten Szenen aus dem Nibelungenlied. Siegfried kämpft gegen den Drachen, er besiegt ihm, schneidet ihm den Kopf ab und badet in seinem Blut. Solche Fenster waren heutzutage unbezahlbar.
    Baldur klopfte an und betrat das Arbeitszimmer seines Großvaters.
    Das Arbeitszimmer war geräumig, an den Wänden standen deckenhohe Bücherregale. Doch dort fanden sich nicht nur Bücher, viele von ihnen sehr, sehr alt, sondern auch Artefakte, Mitbringsel von den kaum zählbaren Reisen des Großvaters. Vielleicht roch es deswegen etwas muffig in dem Zimmer, wie in einem Museum. An der einzigen freien Wand hingen wiederum Bilder. Und wieder zeigten sie Großvater und Drachen. Der Hausherr saß hinter dem riesigen Mahagonieschreibtisch und lächelte seinen Enkel an. Vor ihm stand ein brandneues Notebook. Er liebte diese Kontraste.
    “Setz Dich Baldur. Mein Junge. Schön, dass du gekommen bist”, sagte er mit alter, brüchiger Stimme.
    Baldur setzte sich in einen der großen Ohrensessel gegenüber dem Schreibtisch. Der schmächtige junge Mann versank in dem großen Möbel. Die Fensterläden waren leicht angelehnt, daher war es etwas dämmrig.
    "Großvater", hob Baldur an.
    Sein Großvater sah ihn nun direkt an. Trotz seines hohen Alters waren seine Augen noch genauso strahlend blau wie zu der Zeit, als er noch jung und kraftvoll war und weit in der Welt herumgekommen war. Sein bohrender Blick erfasste seinen Enkel, dem unwillkürlich ein leichter Schauer über den Rücken lief.
    "Ja?"
    "Großvater, erzählst du mir von den Drachen?"
    "Es ist ihr Schicksal. Und sie haben es auch nicht anders verdient. Wir haben es nicht anders verdient. Es nimmt alles seinen gerechten Lauf. So wie die Nacht dem Tag folgt und der Winter dem Sommer."
    Wie üblich verwirrten Baldur die Worte seines Großvaters. Doch er hörte ihm gerne zu und konnte von Drachen nie genug hören. Immer wenn er ihn besuchte, begann er das Gespräch mit diesen Worten. Wahrscheinlich weil er damals, in Gegenwart seiner Eltern, nicht über dieses Thema reden durfte.
    "Großvater, wo leben die Drachen
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