Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Gesicht.
    Hinter mir ertönte ein Schluchzen, ging über in leises Weinen. Ich glaubte, es sei Anna, und fuhr herum.
    Doch das Weinen kam aus dem Nirgendwo, wie in meinen Träumen.
    Anna stand unterhalb der mächtigen Glocken, immer noch fest an das Tau geklammert. Blutfäden liefen ihr von der Stirn übers Gesicht bis zum Kinn wie der Schatten eines Gitterkäfigs. Das Glockenseil hatte sich von den Wunden in ihren Händen rot gefärbt. Sogar unter dem Saum ihres Nonnengewandes drang Blut hervor, sie stand inmitten einer dunklen Pfütze. Ihre Augen waren auf die Erscheinung im Fenster gerichtet. Ein kraftloses Lächeln flimmerte über ihre Züge.
    So schnell ich konnte, sprang ich auf sie zu. Es gelang mir gerade noch, sie aufzufangen, ehe ihre Finger vollends nachgaben und sie in sich zusammensackte. Ich hob sie hoch, trug sie quer über meinen Armen, küßte ihr Gesicht und ließ zu, daß sich meine Tränen mit dem Blut auf ihren Wangen mischten. Schwankend drehte ich mich um, blinzelte durch einen trüben Schleier hinüber zum Fenster.
    Die nackte Erscheinung hatte ihr Haupt leicht auf die Seite gelegt und blickte mich an. Noch immer lag ein geheimnisvolles Lächeln auf ihren Lippen, aufreizend und zugleich voller Mitleid. Sie hob in einer geschmeidigen Bewegung ihre rechte Hand und krümmte lockend den Zeigefinger, winkte mich schweigend zu sich heran.
    Mit Anna im Arm trat ich auf sie zu, ganz langsam, setzte wie im Traum Schritt um Schritt, fühlte mich seltsam schwebend und leicht. Annas leblosen Leib spürte ich kaum. Je näher ich der Erscheinung kam, desto klarer wurden ihre Züge.
    Es war Annas Gesicht, aber es wirkte frischer, gesünder, nicht von Krankheit und jahrelanger Askese gezeichnet. Ihre Lippen waren rot, die blauen Augen blitzten. Wenige Fingerlängen vor ihr blieb ich stehen, mein Gesicht auf der Höhe ihrer Schenkel.
    Die Erscheinung beugte sich anmutig vor, ohne zu schwanken, eine Bewegung gegen die Schwerkraft, weit, weit vornüber.
    Ihre Lippen näherten sich den meinen, berührten sie, und es war, als flößte mir ihr Mund ein süßes Rauschmittel ein. Mir wurde am ganzen Körper warm, dann glühend heiß, und plötzlich hörte ich hinter mir Geräusche.
    Schritte. Polternd und hastig, im Treppenhaus. Ich schaute mich um, träge, wie betäubt, und sah eine Hand in der Falltür auftauchen.
    Als ich zurück zum Fenster blickte, hatte sich die Erscheinung wieder aufgerichtet und beide Arme gespreizt wie Jesus am Kreuz. Ihre Brüste spannten sich leicht. Sie legte den Kopf zurück in den Nacken, bis ihr langes Haar waagerecht im Wind wehte.
    Stumm lachend ließ sie sich nach hinten fallen. Anmutig, mit gestrecktem Körper, die Arme immer noch zu beiden Seiten abgewinkelt. Federleicht stürzte sie rückwärts in die Tiefe, viel zu langsam für das Gewicht eines Menschen. Entsetzen durchdrang den Dämmerzustand meiner Sinne. Ich trat vor, blickte über die bewußtlose Anna in meinen Armen hinweg in den Abgrund. Die Erscheinung fiel und fiel und fiel, und im selben Moment, da sie am Boden aufschlagen mußte, wandte ich mich voller Grauen ab. Als ich eine Sekunde später wieder hinsah, war das Pflaster am Fuß des Kirchturms leer. Nur ein paar Schaulustige standen umher, unterhielten sich, als wäre nichts geschehen.
    »Brentano!«
    Hinter mir.
    Eine Hand packte meine Schulter, riß mich herum. Beinahe wäre Anna aus meinen Armen geglitten, doch da schnellten schon Hände vor und packten sie. Jemand zog sie von mir fort.
    Der Doktor.
    »Brentano«, stammelte ein rundes Gesicht, das ich mit Mühe als das von Pater Limberg erkannte. »Ihr Mund…!«
    Wie in Trance wischte ich mir mit dem Handrücken über die Lippen. Sie waren voller Blut. Ein verschwommener Blick auf Wesener und Limberg – beide wußten, daß es nicht mein eigenes war.
    Annas Blut an meinem Mund, ihr Blut auf meiner Zunge.
    Und hinter mir der Abgrund.

----

    21
----

    »Sie haben lange geschlafen.«
    Ich schlug die Augen auf, meine Lider flatterten. Unter mir spürte ich ein weiches Bett. Man hatte mir die Decke bis zum Kinn gezogen. Trotzdem fror ich entsetzlich.
    »Sie haben hohes Fieber.«
    Vor meinen Augen war ein verschwommenes Feld aus fahler Helligkeit, darin ein dunkler Kern. Ein Gesicht inmitten einer strahlenden Aureole, so kam es mir vor.
    »Sie haben Schüttelfrost. Ein paarmal wären Sie fast an Ihrem eigenen Erbrochenen erstickt.«
    Ich zitterte vor Kälte. Meine Beine spürte ich kaum. In meinem Hals schien ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher