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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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kaum eine Erhebung. Sie war immer leicht, fast gewichtlos, aber jetzt, unter dem weißen Tuch, wirkt sie noch verletzlicher. Eine Wehe aus frischgefallenem Schnee. Bereit, vom nächsten Wind geglättet zu werden, zerstäubt. Für immer fort.
    Man legt sie in einen hübschen Sarg, nicht in den schlichten, den sie sich gewünscht hat.
    Man trägt sie fort zum Grab.

    Er verläßt die Kammer als letzter, schließt hinter sich die Tür.
    Vorher wirft er noch einmal einen Blick zurück, blinzelt die Schleier von den Augen. Schaut auf das leere Bett.
    Damals hast du gesagt, daß wir uns wiedersehen.

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    1

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    In jenem September 1818 sprachen alle von der Sintflut. So nannten sie es – Sintflut –, obwohl kein Tropfen Wasser floß und niemand die Befürchtung hegte zu ertrinken.
    Es war vielmehr eine Flut von Herbstlaub, mehr, als man hierzulande je gesehen hatte. Selbst jene, die weitgereist waren, schüttelten verständnislos die Köpfe. Solch eine Menge in so kurzer Zeit – das hatte noch keiner erlebt.
    Innerhalb weniger Tage lagen Wege und Plätze des Städtchens unter einem Meer aus Laub begraben – braune, gelbe, rote Blätter. Tote Blätter. An den Fassaden fingen sich hüfthohe Wälle, manche bis zu den Fensterbänken, und auf den Höfen wurden die Laubfeuer ohne Unterlaß geschürt.
    Dicht wogte ihr Rauch über den Giebeln, und wenn auch der Wind die grauen Schwaden aufwühlte, so wehte er sie doch nie gänzlich davon. Denn in jenen Tagen war es, als ziehe die Stadt die Winde auf sich, und mit den Winden das Laub, das sie mit sich trugen.
    An dritten Tag der Blätterflut brach die alte Dorte, Schwiegermutter des Krämers Weinstein, röchelnd auf dem Marktplatz zusammen. Der Qualm hatte der gebrechlichen Frau den Atem genommen. Bald darauf war sie tot.
    Notgedrungen erließ der Bürgermeister ein Gesetz, das bis auf weiteres alle Feuer untersagte. Das sorgte zwei Tage lang für erheblichen Aufruhr, und erst als der trauernde Weinstein drohte, seinen Krämerladen zu schließen, hielten sich auch die letzten an den umstrittenen Erlaß.
    Die Blätter stiegen höher und höher. Kein Fegen half, kein Umschichten, kein Bündeln. Selbst der Transport auf die umliegenden Äcker blieb vergebens; der Wind wehte das Laub schneller über die Mauern zur Stadt herein, als man es im Inneren zusammenkehren und auf Karren verladen konnte.
    Am sechsten Tag gaben sich die Bürger geschlagen.
    Irgendwann, so sagten sie sich, mußten schließlich alle Äste leer, alles Laub verweht sein. Nur wenige ahnten, daß bis dahin noch Wochen vergehen mochten.
    Zweierlei war unerhört an diesen Vorgängen.
    Zuvorderst, der frühe Zeitpunkt. Der September mochte dem Ende zugehen, doch das erste Laub wurde meist erst im Oktober erwartet.
    Zum zweiten aber – und das war es, was auch den Spöttern wundersam erschien – war die Gegend bekannt für ihren spärlichen Baumwuchs. Im ganzen Ort konnte man die Bäume an zwei Händen abzählen, und draußen vor den Toren sah es noch karger aus. Auf den Höhenrücken im Osten bog sich das Gras weiter Wiesen im Wind, im Süden lagen die Äcker der Bauern, und im Osten öffnete sich das Land zu einer moorigen Ebene, auf der nichts wuchs außer Heidekraut.
    Ganz gleich, wie man es auch besah: Es gab nicht genug Bäume in diesem Teil des Landes für eine solche Blätterflut.
    Was immer das Laub hierhergelockt hatte, es hatte eine weite Reise hinter sich.

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    2

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    Ich kam mit der Zehn-Uhr-Kutsche nach Dülmen.
    Erschöpft von der Fahrt schob ich mir den Gehstock unter die rechte Achsel, setzte den Zylinder auf, nahm meine Tasche in die Linke und schaute mich um.
    Ein Ort wie so viele andere. Ein paar schmucke Fachwerkhäuschen rund um den Markt, der Rest grauer Stein.
    Menschen waren kaum unterwegs, trotz der Handvoll Händlerbuden, die rund um einen Brunnen standen. Ein streunender Hund beschnüffelte ein Kutschenrad und sprang erschrocken zurück, als der Postillon seinen Pferden die Peitsche gab.
    Der Marktplatz lag unter einer Decke aus Laub. Ein paar Kinder tollten in einem entfernten Winkel umher und bewarfen sich mit wirbelnden Blätterballen.
    »Herr Brentano?« Eine Stimme in meinem Rücken. »Herr Clemens Brentano?«
    Ich drehte mich um und entdeckte einen Mann, Anfang Dreißig, ein paar Jahre jünger als ich selbst. Er schenkte mir ein höfliches Lächeln. Sein dunkles Haar mit einem Stich ins Schwarze war zu lang, wenn auch nicht ungepflegt. Seine Nasenwurzel lag eine Spur zu
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