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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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nicht.«
    Ich warf ihm von der Seite einen neugierigen Blick zu. »Wie hat es Sie eigentlich hierher verschlagen? Wie viele Jahre sind es jetzt? Vier?«
    »Mehr als fünf«, sagte er.
    »Was hat Sie bewogen hierzubleiben?«
    »Hat Ihr Bruder Ihnen das nicht erzählt?«
    »Sicher. Aber es würde mich freuen, es noch einmal aus Ihrem Munde zu hören.«
    Der Wind trieb uns eine Wand von Blättern entgegen, die uns wie kleine Vögel umtanzten. Nachdem wir dem Zentrum der Windhose entkommen waren, blieben wir stehen, um uns die Laubreste von der Kleidung zu klopfen.
    »Sie trauen Ihrem Bruder nicht über den Weg«, meinte Wesener.
    »Ich liebe ihn wie, nun…«, ich lachte, » … eben wie meinen Bruder, wenn Sie wissen, was ich meine. Haben Sie Geschwister?«
    »Nein.«
    »Manchmal empfiehlt sich Christian gegenüber ein gewisses Maß an Skepsis.« Lächelnd fügte ich hinzu: »Sicher würde er jetzt anmerken, das diese Feststellung auf Gegenseitigkeit beruht.«
    Wir gingen weiter, und während ich noch auf Weseners Bericht wartete, entdeckte ich in einiger Entfernung, halb verborgen hinter einem haushohen Laubwirbel, eine einsame Gestalt. Es mußte eine Frau sein, trug sie doch weite, bodenlange Gewänder, die schwarz waren wie der tiefste Schatten. Auch ihr Gesicht war verhüllt, oder aber sie hatte mir den Hinterkopf zugewandt; von weitem war das kaum mit Bestimmtheit zu sagen. Einen Moment lang schien es mir, als umkreisten sie die Blätter wie eine ockerfarbene Spirale, die sich aufwärts gen Himmel schraubte, während die Gestalt in ihrer Mitte vollkommen reglos dastand. Eine Wespenkönigin in ihrem Schwarm.
    Ich warf Wesener einen Blick zu, doch er schaute in eine andere Richtung, hinüber zu einer Ecke, an der wir abbiegen mußten.
    Als ich zurück zu der Frau blickte, war sie fort. Nur die Blätter tobten noch als wirbelnde Säule am Straßenrand, bis ein Windstoß sie abrupt auseinanderfegte.
    »Haben Sie das gesehen?« fragte ich.
    »Was meinen Sie?«
    »Dort drüben, die Frau.«
    Er schien mich gründlich mißzuverstehen. Er wirkte irritiert, wohl darüber, daß ich mir trotz unserer kurzen Bekanntschaft schon anmaßte, ihn auf eine fremde Frau anzusprechen. »Tut mir leid«, sagte er knapp. »Ich sehe niemanden.« Er deutete um die Ecke. »Kommen Sie, hier entlang.«
    Ich folgte ihm, behielt die Stelle auf der Straße aber bis zuletzt im Blick. Dabei fiel mir ein Schild an einer der Fassaden auf; darauf standen Weseners Name und Doktortitel.
    »Ist das Ihr Haus?«
    »Meine Praxis, ja.«
    Wir gingen eine schmale Straße entlang. Auch hier war das Pflaster vom Laub bedeckt. Zwei Frauen lehnten in ihren Fenstern auf gegenüberliegenden Straßenseiten. Ihr Gespräch verstummte, als sie uns kommen sahen. Höflich grüßten sie Wesener, mich selbst aber bedachten sie mit mißtrauischen Blicken. Ich schenkte beiden mein herzlichstes Lächeln und tippte mit dem Finger an den Zylinderrand. Die eine errötete und zog sich rasch zurück, die andere musterte mich weiter, als sei ihr ein Geist erschienen. Ich kenne meine Wirkung auf die Damenwelt. Eine gepflegte Erscheinung, modisches Auftreten und das südländische Blut in meinen Adern sind gewinnende Attribute.
    »Das Fräulein schätzt Bescheidenheit«, sagte Wesener.
    »Das geht mir genauso.«
    »Ich habe Ihren Godwi gelesen. Ein Buch, das viel über seinen Verfasser verrät, wie mir scheint. Auch Sie sind Kaufmannssohn wie Ihre Hauptfigur, nicht wahr?«
    »Es hat mich nicht lange in Vaters Fußstapfen gehalten.« Es behagte mir nicht, mit einer meiner Schöpfungen verglichen zu werden. »Ich war nie etwas anderes als ein… Verfasser, wie Sie es nennen.«
    »Dort vorne ist es.« Wesener deutete auf ein
    zweigeschossiges Eckhaus. Aus einer offenen Ladentür strömte der warme Geruch frischen Backwerks. »Das Fräulein wohnt im ersten Stock, in einem Eckzimmer zum Hof hinaus.«
    »Das Haus gehört nicht ihr?« fragte ich verwundert. Ich hatte angenommen, daß die Wunder einer stigmatisierten Nonne ein schönes Auskommen sicherten.

    »Wo denken Sie hin? Das Fräulein besitzt nicht einmal genug, eine ordentliche Pflegerin zu beschäftigen. Statt dessen muß sie mit ihrer eigenen Schwester vorliebnehmen, mit Gertrud.« Er betonte den Namen mit merklicher Verachtung.
    »Sie mögen sie nicht?«
    Wesener rümpfte die Nase. »Sie werden Sie kennenlernen, warten Sie’s ab.«
    Wir traten durch ein Hoftor und erreichten eine schmale, überdachte Veranda. Durch ein
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