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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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hoch, beinahe auf der Stirn. Der lange Nasenrücken teilte seine Züge in zwei Hälften, ein scharfer, steilwandiger Gebirgsgrat.
    »Ich bin Doktor Wesener«, stellte er sich mit einer angedeuteten Verbeugung vor. »Ich hoffe, Ihr Bruder hat meinen Namen erwähnt.«
    »Christian hat viel Gutes von Ihnen erzählt«, bestätigte ich und streckte ihm die Hand entgegen. Sein Händedruck war einnehmend fest. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Doktor Wesener. Einen so selbstlosen Mann wie Sie trifft man nicht alle Tage.«
    Ein wenig unsicher, vielleicht auch beschämt, zupfte er an einem Knopf seines schwarzen Gehrocks. Darunter trug er eine sandfarbene Weste und ein weißes Hemd mit
    hochgeschlagenem Kragen. Beides hätte ich in einer größeren Stadt als altmodisch empfunden, hier aber hob es sich angenehm von der ärmlichen Umgebung ab. Ich war nicht gerne hierhergekommen, doch der erste Eindruck dieses jungen Arztes machte mir Mut; bisher hatte ich befurchtet, Christian habe ihn so überschwenglich gelobt, um mir die Reise nach Dülmen schmackhaft zu machen.
    Wesener deutete auf meine Reisetasche. »Wenn Sie möchten, veranlasse ich, daß man Ihr Gepäck ins Gasthaus bringt.«
    »Machen Sie sich keine Umstände«, entgegnete ich abwinkend. »Nur ein paar Hemden und Hosen, nichts von Gewicht. Meine Bibel habe ich daheim gelassen, ich nahm an, daß es hier nicht an christlichem Beistand mangelt.« In Anbetracht der Umstände hatte ich die Worte als Scherz gemeint, doch Wesener schien es nicht zu bemerken. Sein Lächeln blieb höflich, herzlich sogar, aber ohne eine Spur von Heiterkeit.
    »Möchten Sie etwas essen? Trinken, vielleicht?«
    Ich lehnte ab. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich am liebsten gleich Ihre Patientin kennenlernen.«
    »Natürlich.« Er klang nicht sonderlich erfreut über meine Eile. »Wir haben dem Fräulein Emmerick Ihren Besuch angekündigt. Sie gibt sich große Mühe, gefaßt und schmerzfrei zu erscheinen. Sie mag es nicht, wenn man sie bemitleidet.«
    »Verstehe.« Ich wollte mich in Bewegung setzen, doch Wesener blieb am verlassenen Kutschstand stehen. Gefallenes Herbstlaub reichte ihm bis zu den Waden.
    »Ich möchte nur, daß Sie vorher Bescheid wissen«, sagte er.
    »Es ist wichtig, daß Sie keine falschen Erwartungen haben.«
    »Mein Bruder hat mir viel von Schwester Anna erzählt. Ich glaube, ich weiß, was ich erwarten darf.«
    »Das Fräulein Emmerick ist überaus empfindsam, auch wenn sie es nicht zeigt. Sie scheint lebhaft, aber damit überspielt sie nur ihr Leiden.« Wesener ging voraus. »Oh, und bevor ich es vergesse: Sie haßt Lob und Komplimente. Versuchen Sie nie, ihr zu schmeicheln.«
    Ich nickte dankbar. »Damit haben Sie mich vor einem Fettnapf bewahrt.«
    Er lächelte unbestimmt, ohne mich dabei anzusehen. »Ich dachte mir, daß Sie ein Charmeur sind.«
    Gemeinsam überquerten wir den Markt. Bei jedem Schritt stoben trockene Laubfetzen auf.
    »Der Herbst kommt früh in diesem Jahr«, bemerkte ich.
    »Was genau hat Ihr Bruder Ihnen erzählt, wenn die Frage gestattet ist?«
    Eine Windbö drohte mir den Zylinder vom Kopf zu wehen; ich konnte gerade noch mit der Rechten danach greifen. Dabei fiel mein Gehstock zu Boden. Wesener bückte sich flink, hob ihn auf und reichte ihn mir. »Vielen Dank. Wissen Sie, mein Bruder war nach seinem Besuch hier sehr – nun, euphorisch.
    Sie haben ihn kennengelernt, also wissen Sie bestimmt, was ich meine.«
    »Er schien mir in seiner Bewunderung für das Fräulein sehr aufrichtig.«
    »Zweifellos. Die Sache ist nur, daß ich nicht ganz so leicht zu begeistern bin.«
    Wesener blieb stehen. »Sie sind Atheist?«
    »Hat Christian Ihnen das nicht gesagt?«
    »Mit keiner Silbe.«
    »Ach, dieser Dummkopf. Er ist der festen Überzeugung, daß sich meine Einstellung in dieser Sache nach meinem Besuch bei Schwester Anna ändern wird.«
    Der junge Doktor ging weiter, doch nun stand Argwohn in seinen Augen. »Als Dichter haben Sie nicht zufällig irgendwelche, wie soll ich sagen, weltlichen Ämter inne?«
    Ich lachte laut auf. »Das Amt, das mir schmecken würde, müßte erst noch erfunden werden. Nein, Doktor Wesener, haben Sie keine Sorge. Ich bin nicht im Auftrag irgendeiner Kommission hier, wenn es das ist, was Sie fürchten. Mein Besuch bei Schwester Anna hat allein private Gründe.«
    Er durchschaute mich schneller, als mir lieb war. »Ihr Bruder hat Sie dazu überredet, nicht wahr?«
    »Macht das einen Unterschied?«
    »Ich hoffe
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