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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Lagen der Binde waren blutdurchtränkt, als Wesener sie vorsichtig von der Haut löste. In der Mitte des Fußes, oben auf dem Spann, klaffte eine Wunde, groß wie eine Münze und an den Rändern dunkel verkrustet.
    Als es mir endlich gelang, meinen Blick davon zu lösen und hinauf in Annas Gesicht zu schauen, hatte sie die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt, als befände sie sich in tiefer Andacht.
    Ich wollte näher ans Bett treten und die Wunde genauer betrachten, doch Wesener hielt mich mit ausgestrecktem Arm zurück. »Ich muß Sie um ein wenig mehr Achtung vor dem Leid des Fräuleins bitten«, sagte er gereizt.
    Ich blieb stehen. »Ich nehme an, die Wunde am anderen Fuß sieht genauso aus.«
    Der Doktor nickte, während Anna weiterhin schwieg. »Was immer die Wunden verursacht, ist von oben nach unten durch die Füße gedrungen«, erklärte er, während er den Verband neu anlegte. »In all den Jahren, die ich das Fräulein behandle, sind sie nicht ein einziges Mal verheilt. An bestimmten Tagen, meist an Kirchenfesten, bluten sie stärker als an anderen.«
    Jeder konnte der armen Frau diese Wunden zugefügt haben, angefangen bei ihr selbst, über Wesener bis hin zu ihrem Beichtvater, diesem Pater Limberg, den sie erwähnt hatte.
    Trotzdem mußte ich mir eingestehen, daß mich der Anblick zutiefst berührte. Was auch immer der Grund für die Verletzungen war, es mußte entsetzlich sein, ein Leben lang solche Schmerzen ertragen zu müssen. Von Christian wußte ich, daß die Stigmata der Anna Katharina Emmerick zum ersten Mal im Kindesalter aufgetreten waren. Eine langwierige, schmerzhafte Untersuchung durch den Generalvikar zu Münster hatte ihre Echtheit bestätigt, zumindest in den Augen der Kirche.
    Annas Hände hatten bei meinem Eintreten unter der Decke gelegen. Jetzt sah ich, daß sie ebenfalls bandagiert waren. Ich wandte mich eilig an Wesener. »Sie müssen sie mir nicht zeigen.«
    »Doch«, sagte Anna mit geschlossenen Augen.
    Der Doktor fügte sich, und so sah ich mit wachsender Unruhe zu, wie er die Binde an Annas rechter Hand löste. Die Wunde, die zum Vorschein kam, war kleiner als die am Fuß, sah aber nicht weniger schmerzhaft aus.
    »Der Durchstich erfolgte von der Handfläche nach außen«, erklärte Wesener sachlich, als der Mediziner in ihm die Oberhand gewann, »der Richtung am Fuß genau
    entgegengesetzt. Damit entsprechen die Verletzungen exakt Jesu Wunden am Kreuz.«
    Mir brannte die Frage auf den Lippen, ob er etwa dabeigewesen sei, um derart sicher zu sein. Mit Rücksicht auf Anna hielt ich mich jedoch zurück. Allzu viele sagten mir bereits nach, ich sei unfähig, meine scharfe Zunge im Zaum zu halten. Auguste, meine zweite Frau, hatte es mir heulend ins Gesicht geschrien, als ich sie nach einem ihrer schlecht inszenierten Selbstmordversuche verlassen hatte.
    »Jetzt die Stirn«, flüsterte Anna.
    Wesener wickelte ihre Hand wieder ein und zog die Bettdecke nach oben, bis sie Annas Hüften bedeckte. Dann trat er ans Kopfende der Korbkrippe und löste den Haubenverband seiner Patientin.
    Tiefe Schnitte und Kratzer bildeten einen zweifingerbreiten Kranz rund um ihren Kopf, geradewegs über die Stirn hinweg.
    Oberhalb der Ohren und am Hinterkopf war ihr kurzes dunkles Haar mit Blut verkrustet.
    »Wird sie denn nie gewaschen?« raunte ich dem Doktor zu und spürte, wie Zorn in mir aufstieg.
    Weseners Blick wurde noch düsterer. »Das ist Gertruds Aufgabe…«
    »…der sie getreu jeden zweiten Tag nachkommt«, beendete Anna den Satz für ihn.
    Der Doktor schaute sie streng an. »Sie wissen, daß das nicht die Wahrheit ist. Ich kann nicht verstehen, weshalb Sie dieses Geschöpf auch noch in Schutz nehmen!«
    »Sie ist meine Schwester und ein Kind Gottes wie wir alle.«
    Wesener schenkte mir einen Blick, der mir fast hilfesuchend erschien. Ich aber sagte nichts, starrte nur die blutigen Male rund um Annas Kopf an. Zweifellos sahen sie aus wie Spuren einer Dornenkrone.
    »Wollen Sie noch mehr sehen?« fragte der Doktor.
    »Alles«, kam Anna mir beharrlich zuvor.
    »Es muß wirklich nicht sein«, wandte ich ein.
    Wesener sah seine Patientin an. Noch immer waren ihre Augen geschlossen. »Da hören Sie’s!«
    »Ich habe von ihm geträumt. Er ist der Pilger. Er soll alles sehen.«
    Mir war klar, daß Wesener mir die Schuld an ihrem Starrsinn gab, als hätte ich sie mit irgendeinem Zauber behext. Ich sagte nichts mehr, zuckte nur mit den Achseln.
    Nachdem der Haubenverband die
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