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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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de profundis
    Trotz allem kennen wir unsere eigene Stadt noch nicht gut genug. Das kann ich leider aus eigener Erfahrung bestätigen. Besonders einzelne Stadtteile. Die Begebenheit, die mir widerfahren ist, veranlasst mich, einige meiner Gedanken zu offenbaren.
    Erstens muss ich ohne Umschweife sagen: Bei uns gibt es keinen einzigen detaillierten Stadtplan mit sämtlichen Namen von Straßen, Gassen, Springbrunnen usw. Und die alten Pläne sind längst hoffnungslos veraltet. Ich verstehe sehr wohl, dass das Nichtvorhandensein solcher Pläne sich mit strategischen Motiven erklären lässt. Es ist ein Hindernis für eine Invasion der Stadt.
    Die Vorstellung, sich zu verirren, schreckt die potentielle feindliche Legion. Doch in langjähriger geduldiger Erwartung fremdländischer Horden verlieren wir selbst die Fähigkeit der Orientierung, was sich auf die Entwicklung des Gleichgewichtsorgans der Jugend verderblich auswirken kann. Wir verwirren den Feind und verwirren damit teilweise uns selbst.
    Übrigens sind mir nirgends Begründungen bezüglich des Nichtvorhandenseins detaillierter Pläne untergekommen. Möglicherweise erklärt sich dies ebenfalls aus potenzierter, strategisch bedingter Wachsamkeit. Ich will nicht verbergen, dass alte Pläne, die ich zu Gesicht bekam, ein starkes Gefühl der Rührung auslösten, welches womöglich seinerseits zu ihrer Abschaffung beitrug, da dieses Gefühl durch nichts gerechtfertigt war.
    Anstelle gewissenhaft, maßstabgetreu gefertigter Pläne stellte uns die Stadtverwaltung neueste Karten zur Verfügung. Sie sind bewusst unzuverlässig und lassen alle Richtungen anzweifeln, mit Ausnahme wohl des Flusses, der sich wie eh und je in Form einer vorgestülpten Unterlippe durch die Stadt schlängelt.
    Mit den detaillierten Stadtplänen verschwanden auch die detaillierten Reiseführer: Das waren feine kleinformatige Bändchen in mehreren Sprachen, in denen dem leiblichen Wohl viel Platz eingeräumt wurde. Außer kulinarischen Empfindungen wecken die erhalten gebliebenen Exemplare eine intensive Vorstellung davon, wie sehr sich die Stadt verändert hat, wie sich ein gemütliches verschneites Städtchen mit gelben, grünen und rosa Häuschen, mit zahllosen, die Gittertore bewachenden, zahm aussehenden Löwen in ein uferloses, von Millionen Straßenlaternen fahl beleuchtetes Gemenge verwandeln konnte.
    Die Stadt breitet sich aus wie eine Epidemie, erdrückt und zerstört das historische Zentrum, modelt alles um, was ihr in die Quere kommt, verunreinigt Parks und Grünflächen. Und was, denke ich bisweilen verständnisvoll, wenn die Stadtverwaltung sich alle Mühe gegeben hat, einen neuen und genauen Plan herzustellen, und ihn gar nicht aus Vorsicht zurückhält, sondern weil es nicht genug Landvermesser, Kartographen, Messbänder und sonstige Technik gibt?
    Im Allgemeinen beruht die Kenntnis einer Stadt auf der diffusen Erfahrung des Sichfortbewegens über viele Jahre und einer gewissen Beobachtungsgabe, die im Übrigen, bedingt durch verschiedene Lebensumstände, nachlässt. Das kann ich leider aus eigener Erfahrung bestätigen. Nein, ich bin mir dessen bewusst, dass eine Stadt verschiedene, vom Standpunkt des Anstands gesehen, unangenehme Funktionen ausüben muss: ihre Toten beerdigen, Krüppel und Missgeburten an sicheren Orten verwahren, das Funktionieren von Kanalisation und Müllbeseitigung gewährleisten. Als loyaler Einwohner der Stadt kann ich diese Maßnahmen moralisch unterstützen. Früher, auf den alten Plänen, waren die Friedhöfe unserer Stadt als grüne Flächen mit winzigen schwarzen Kreuzchen markiert. Jetzt hat die Stadtverwaltung beschlossen, die städtischen Friedhöfe zu tarnen. Eine vernünftige Entscheidung! Die Friedhöfe haben sich von selbst in strategische Objekte verwandelt, da die Bevölkerung sich mit allen Kräften von jeglichen Gedanken an den Tod ablenken soll. An den Tod zu denken passt überhaupt nicht zu uns.
    Eben aus diesem Grunde möchte ich auf Erscheinungen von genau entgegengesetzter Beschaffenheit aufmerksam machen, die nirgendwo berücksichtigt werden und in den Dokumenten städtischer Dienststellen nicht vorkommen.
    Es gibt in unserer Stadt so etwas wie vergessene Stadtteile mit heruntergekommenen, halb tot aussehenden Häusern, die nichtsdestoweniger reichlich bevölkert sind. Was das für Bewohner sind, welcher Art ihre Tätigkeiten, ist schwer zu sagen; ich verkehre nicht in solchen Häusern. Allerdings ist mir bekannt, dass sich in den
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