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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Verständnis für unsere Lage.
    Hätte ich auch nur geahnt, daß Sie vom Glauben abgekommen sind, so hätte ich gewiß…«
    »Entschuldigung«, fiel ich ihm scharf ins Wort, »sollte Ihnen daran gelegen sein, meinen Bruder anzugreifen, so muß ich Sie bitten, augenblicklich dieses Zimmer zu verlassen. Christian hoffte – vielleicht ein wenig blauäugig –, mein Besuch hier könne mich zurück in den Schoß der Kirche führen. Allerdings gestehe ich, daß ein Auftreten wie das Ihre nicht gerade meine Bereitschaft fördert, auch nur einen Gedanken an solch einen Schritt zu verschwenden.«
    »Ich kenne Ihre Dichtungen, Herr Brentano. Und ich bezweifle, daß Sie einen solchen Schritt jemals ernsthaft erwogen haben.«
    Ah, das also war es! »Ich nehme an, Sie haben den Godwi gelesen?« Kannte hier denn niemand meine Gedichte, meine Märchen? Natürlich nicht.
    Limberg verzog das Gesicht, als hätte er einen widerlichen Wurm auf meinem Rockaufschlag entdeckt. »Ich mußte Ihr –
    nun, Werk zum Glück nicht selbst lesen. Aber Doktor Wesener hat mir…«
    »Einiges darüber erzählt, zweifelsohne«, seufzte ich. »Wissen Sie, was behauptet wird?« Ich hätte die Worte nicht einmal dann zurückhalten können, wenn ich gewollt hätte. »Man sagt, Sie seien derjenige, der Schwester Anna diese Wunden zufügt.«
    Ich hatte einen wüsten Zornesausbruch erwartet, doch zu meinem Erstaunen blieb Limberg gefaßt. Die Wut in seiner Stimme wich betretener Resignation. »Ich habe diesen Vorwurf schon so oft gehört«, sagte er, »daß ich es müde geworden bin, ihn abzustreiten.«
    Sein wunder Punkt, gut. Geradewegs ins Schwarze.
    »Haben Sie auch nur einen Beweis dafür, daß diese Verletzungen nicht von Menschenhand verursacht wurden?«
    fragte ich kalt. »Nur einen einzigen?«
    »Die Kirche hat sie offiziell anerkannt.«
    »Und deshalb soll ich daran glauben?«
    Er musterte mich einen Moment lang, als erwöge er, seine bisherige Einschätzung meiner Person neu zu überdenken.
    Seine Augen schienen geradewegs in mich hineinzublicken, schienen etwas in mir zu ertasten, zu prüfen. Dann sagte er leise. »Ich denke fast, Sie wollen glauben.«
    Das kam unerwartet. »Sie wollen nur ablenken«, entgegnete ich matt.
    Triumph hellte seine Stimme auf. »Aber das ist es doch, Brentano! Wer hätte gedacht, daß es so einfach ist, Sie zu durchschauen. Sie suchen nur nach etwas, an das sich zu glauben lohnt! Sie haben so viele Enttäuschungen erlebt, daß Sie längst verlernt haben, irgend etwas auf Anhieb zu akzeptieren. Sie möchten glauben, aber sie können es nicht mehr. Allein darum geht es Ihnen! Nicht um die Wunden dieser armen Frau, nicht um Betrug oder Wahrheit – es geht Ihnen allein um sich selbst.« Er stieß ein abfälliges Lachen aus.
    »Herrgott, und ich dachte schon, Sie seien gefährlich. Dabei sind Sie nur bemitleidenswert.«
    Ich muß ihn derart entgeistert angestarrt haben, daß er sich keck vor mir aufbaute, einen Kopf kleiner als ich und doch mit einemmal ungemein groß. Überhastet sprach er weiter: »Ich kenne Menschen wie Sie, Brentano. Ich habe in meiner Zeit am Krankenlager der Schwester viele von Ihrem Schlage kennengelernt. Sie kommen her, weil Sie der Welt unterstellen, sie habe Ihnen übel mitgespielt. Sie sind Sammler – Sammler von Enttäuschungen, von Mißerfolgen, von gescheiterten Hoffnungen. Und wo Sie keine finden, sondern auf echte Überzeugung, auf echten Glauben stoßen, da verfallen Sie in Panik. Die Wahrheit macht Ihnen angst, ist es nicht so? Sie furchten nicht Betrug oder List oder Niederlage – dazu kennen Sie das alles viel zu gut. Nein, Männer wie Sie, Brentano, fürchten sich vor der Freude, der Wonne, der Begeisterung anderer. Und am meisten vor Ihrem eigenen Glück.«
    Lange fiel mir nichts ein, was ich darauf hätte erwidern können. Ein schrecklicher, ins Unendliche gedehnter Augenblick verging, während ich zusah, wie Limberg sich umdrehte und zur Tür hinaustrat, wie er eins wurde mit dem Dunkel des Korridors und davonging.
    Er ließ die Tür offenstehen, vielleicht weil er wußte, daß ich zu schwach war, um sie hinter ihm zu schließen.

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    5
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    Ich streifte ziellos durch die Nacht. Der Wind peitschte das Blättermeer in den Straßen wie die offene See, schuf Wogen und Strudel, Verwehungen und tiefe Wellentäler. Ich hielt Ausschau nach einem Rettungsboot, aber es war zu dunkel, und ich war ganz allein auf der Welt. Meine trunkenen Sinne nahmen nur wenig von der Umgebung wahr.
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