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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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Im Herbst 1818 kommt der Dichter Clemens von Brentano in das kleine Städtchen Dülmen im Münsterland. Er will dort die junge Nonne Anna Katharina Emmerick besuchen, die durch ihre Marienvisionen und Stigmata bekannt geworden ist. Clemens ist kein gläubiger Mensch, und er verdächtigt Anna und ihren Arzt Dr. Wesener des Betrugs.
    Auch Pater Limberg, dem Beichtvater Annas, mißtraut er, nachdem er ihn eines Nachts in ihrem Haus verschwinden sah. Ist vielleicht er es, der ihr die Wunden zufügt? Clemens beantragt eine offizielle. Untersuchung der Vorgänge. Doch je öfter er mit Anna spricht, desto mehr zieht sie ihn in ihren Bann. Er wird von Visionen heimgesucht – Visionen einer rätselhaften Frau in Schwarz.
    Zwischen erotischen Wachträumen und beängstigenden Erscheinungen aus der biblischen Offenbarung entdeckt Clemens eine Macht, die größer ist als religiöser Wahn – seine Liebe zu Anna. Eine wahre Geschichte – melancholisch, unheimlich, bewegend.

    Er geht in die Knie, gleich neben dem Bett der Toten. Er weiß, daß er jetzt weinen sollte. Aber er kann nicht weinen. Ist einfach nicht in der Lage dazu. Er hat davon gelesen, wie er von so vielem gelesen hat, und er hat nie geglaubt, daß es die Wahrheit sein könnte. Aber es stimmt: Manchmal kann man nicht weinen, gerade dann, wenn einem am meisten danach ist. Keine Träne übrig. Nicht nach fünfeinhalb Jahren.
    Das Fenster steht einen Spalt weit offen, doch von draußen dringt kein Ton herein. Alles schweigt. Das wäre passend, wenn es nicht Anna wäre, die da tot auf ihrem Bett liegt. Ausgerechnet Anna. Sie hat es geliebt, wenn die Vögel sangen, hat es so geliebt. Es ist Februar. Sie wäre lieber im Sommer gestorben, wenn die Natur eine Stimme hat.
    Sie ist ein wenig zur Linken in die Kissen gesunken. Ihre Lippen sind geschlossen, auch ihre Augen. Vielleicht hat Wesener das getan. Hat ihr die Augen geschlossen, damit sie nicht mitansehen muß, wie sie alle an ihr Bett kriechen. Wie sie trauern um sie, wie sie Annas Leid beweinen und dabei nur ihr eigenes meinen.
    Er spricht ein stummes Gebet, aber ihm wird schnell bewußt, daß er dabei nicht wirklich an Gott denkt. Nur an Anna. Er denkt: Wenigstens die Trauer kann er einem nicht nehmen, wenigstens die Trauer gehört uns ganz allein.
    Er weiß, daß Anna ihm widersprochen hätte. Sie ist kaum tot, und schon ändern sich seine Ansichten, schon ist er anderer Meinung als sie. Darüber kommen ihm doch noch die Tränen.
    Ist es nicht sonderbar, wie solche Kleinigkeiten die großen Sorgen mit einemmal greifbar machen, sie faßbar, fühlbar, begreiflich machen?
    Hinter dem Kopfende des Bettes lehnen zwei Krücken.
    Irgend jemand hat sie für Anna gemacht, vor ein paar Jahren.
    Sie ist damit einige Schritte in der Kammer auf und ab gegangen, um zu zeigen, daß sie sich darüber freut. Es hat ihr Schmerzen bereitet, wie vieles, wie alles. Trotzdem hat sie getan, als wäre sie glücklich.
    Neben ihrem Gesicht, an der Wand, hängt ein kleines Ölgemälde: der Tod Marias. Ein Geschenk der Fürstin Salm.
    Sie hat so viele Geschenke bekommen, am Ende wurden es immer mehr, aber das hier war ihr eines der liebsten.
    Der Tod Marias. Der Tod Annas. Eine Schablone, so offensichtlich, daß es fast lächerlich erscheint.
    Ihre rechte Hand ruht auf der Decke, sehr zart, sehr schmal.
    Die Haut sehr weiß. Er hat diese Hand verehrt, weil sie die Hand einer Heiligen war. Aber geliebt hat er sie, weil es Annas Hand war.

    Ihre Hand mit dem blutigen Mal.
    Annas Hand, endlich die ihre ganz allein.

    Manchmal hat er versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde. Er hat immer gewußt, daß er eines Tages in diese Kammer kommen würde, wie seit fünfeinhalb Jahren Tag für Tag, und sie würde da liegen und tot sein. Auch Anna selbst hat es immer gewußt. Sie hat viel davon gesprochen. Dann hat er ihr gesagt, sie soll still sein, soll nicht von solchen Dingen reden. Aber Anna hat gelächelt, trotz ihrer Schmerzen.

    Der Tod ist nur, was ich will, das er ist.
    Das hat sie gesagt. Und immer nur gelächelt.

    Man breitet ein großes Leintuch über ihren Körper.
    Ein letzter Blick, bevor sich der Stoff gleichsam schwebend herabsenkt: Die Male haben aufgehört zu bluten. Er kennt jede dieser Wunden, diese zarten, schmalen Münder, Lippen des Vergangenen und Immerwährenden. Sie sind gerötet wie von Scham. Die Krusten sind abgefallen.
    Annas Füße sind fest überkreuzt. Ihr zerbrechlicher Körper bildet unter dem Stoff
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